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Anja Sturm.

© Christof Stache/AFP

NSU-Prozess: Anja Sturm hält ein Plädoyer für Beate Zschäpe

Die letzten Jahre haben Spuren hinterlassen. Anja Sturm ist mitgenommen. Doch Beate Zschäpes gedemütigte Anwältin hält das bestmögliche Plädoyer in einem langen und verstörenden Prozess.

Von Frank Jansen

Der NSU-Prozess dauert schon mehr als fünf Jahre, die meisten Anwälte glauben, sie hätten genug rechtsextreme Provokationen erlebt, da stellt sich Wolfram Nahrath ans Pult. Am 427. Verhandlungstag ist er dran mit seinem Plädoyer. Nahrath vertritt mit zwei Kollegen den Angeklagten Ralf Wohlleben, ehemals Vizechef der Thüringer NPD. Und er nutzt den Prozess zu den Verbrechen der Terrorzelle „Nationalsozialistischer Untergrund“ für den Versuch einer Art Ehrenrettung des historischen Nationalsozialismus. Nahrath, einst Anführer der 1994 verbotenen „Wiking-Jugend“ und notorisch in der rechten Szene aktiv, legt los.

Er deklamiert Parolen von Adolf Hitler. „Unsere Bewegung hat Gewalt nicht nötig“, zitiert er mit gewohnt kalter, leicht heiserer Stimme. „Der Nationalsozialismus ist eine kühle Wirklichkeitslehre“, „unsere Demut ist die bedingungslose Verbeugung vor den Gesetzen des Daseins“, und: „Ich will den Frieden“. Das habe Hitler nach Beendigung des Frankreich-Feldzuges gesagt. Dass der Diktator da schon in weiten Teilen Europas den Frieden zerstört hatte und den Überfall auf die Sowjetunion plante, ist für Nahrath nicht erwähnenswert.

Die Totenstille im Saal A 101 des Oberlandesgerichts München, die versteinerten Mienen der Opferanwälte, wertet der Verteidiger als Bestätigung. Nach einer Kunstpause schiebt Nahrath hinterher, „war doch gar nicht so schlimm“.

Konfliktpotenzial im Verfahren

Seit fast einem Jahr werden im NSU-Prozess inzwischen die Plädoyers gehalten. Nahraths Auftritt ist zugleich der Tiefpunkt und doch nur ein Detail in einem Reigen, der an diesem Donnerstag, Prozesstag 435, nun geendet hat.

Mit dem Vortrag von Beate Zschäpes Verteidigerin Anja Sturm ist das letzte große Kapitel vor dem Urteil des 6. Strafsenats abgeschlossen. Sturm sieht bei Zschäpe keinen Terrorismus und hält die von der Bundesanwaltschaft geforderte Sicherungsverwahrung für abwegig. Ihren viertägigen Auftritt beendet die Anwältin mit einem erschöpften „Vielen Dank“. Es ist der letzte Atemstoß in einem Marathon, der in einem deutschen Gericht einmalig gewesen sein dürfte.

Drei Vertreter der Bundesanwaltschaft, mehr als 50 Opferanwälte und auch einige der Nebenkläger selbst sowie die 14 Verteidiger der fünf Angeklagten haben sich ein zähes rhetorisches Ringen geliefert. Es geht um die juristische Bewertung des schwersten rechtsextremen Terrors, den die Bundesrepublik seit der Wiedervereinigung erlebt hat, um die Schuld der Angeklagten, die angemessene Strafe und auch um die Rolle des Staates, der versagt hat in den fast 14 Jahren, in denen der NSU zehn Menschen ermordet, zwei Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfälle verübt hat. Für alle Prozessparteien und für die Richter eine gewaltige Strapaze.

Schon die für deutsche Verfahren enorme zeitliche Entfernung zwischen dem Beginn der Plädoyers im Juli 2017 und dem nun erfolgten Abschluss zeigt, welches Konfliktpotenzial in dem Verfahren steckt. Etwa die Hälfte aller Befangenheitsanträge im NSU-Prozess haben Verteidiger in diesem Jahr gestellt.

Als sei dieses letzte Jahr ein Konzentrat der ersten vier des Prozesses, prallen die Gegner noch einmal mit voller Wucht aufeinander. Im Mittelpunkt steht natürlich Beate Zschäpe. Im April tragen ihre beiden neuen Anwälte Hermann Borchert und Mathias Grasel als erste Verteidiger vor, im Juni dann die von Zschäpe im Juli 2015 geschassten Anwälte Wolfgang Heer, Wolfgang Stahl und als Letzte Anja Sturm. Die drei schaffen es, dem Tiefpunkt des Nazi-Plädoyers von Wolfram Nahrath einen juristischen Höhepunkt entgegenzusetzen.

„Beate Zschäpe ist keine Terroristin“

Wolfgang Heer seziert anhand zahlreicher Zeugenaussagen und Gutachten von Sachverständigen drei Tage lang die härtesten Vorwürfe der Bundesanwaltschaft. Die Ankläger halten Zschäpe für die Mittäterin bei den Morden, Sprengstoffanschlägen und Raubüberfällen des NSU. Bundesanwalt Herbert Diemer forderte in seinem Plädoyer die Höchststrafe für die Hauptangeklagte: lebenslänglich, mit Feststellung der besonderen Schwere der Schuld, dazu Sicherungsverwahrung. Die 43-Jährige käme vielleicht erst mit Mitte 80 wieder frei. Der jungenhaft wirkende Heer argumentiert trotz der Kränkung durch Zschäpe, die weder mit ihm noch Stahl oder Sturm spricht, akribisch, ideologiefrei, aber auch mit Leidenschaft. „Beate Zschäpe ist keine Terroristin“, sagt er, „sie ist keine Mörderin und keine Attentäterin. Sie ist wegen aller angeklagter Staatsschutzdelikte freizusprechen und unverzüglich freizulassen.“

Es folgt eine Auflistung sämtlicher Anklagevorwürfe der Bundesanwaltschaft. Die von Zschäpes Kumpanen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos verübten Morde an türkisch- und griechischstämmigen Männern in Nürnberg, Hamburg, München, Rostock, Dortmund und Kassel sowie die Ermordung der Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn. Die zwei Sprengstoffanschläge in Köln, bei denen mehr als 20 Menschen verletzt wurden. Die 15 Raubüberfälle auf einen Supermarkt und Filialen von Post und Sparkasse in Chemnitz, Zwickau, Stralsund, Arnstadt und Eisenach.

Die Angeklagte habe keine Morde geplant, sagt Heer. Sie habe keine Waffen besorgt, „sie hat an den Taten insgesamt nicht mitgewirkt“. Zschäpe sei „noch nicht einmal in der Nähe“ eines Tatorts gewesen und habe die Straftaten von Böhnhardt und Mundlos „auch nicht vom Küchentisch aus gesteuert“. Heer hält Zschäpe nur in einem Fall für schuldig. Dass sie am 4. November 2011 in Zwickau die Wohnung anzündete, in der sie mit Böhnhardt und Mundlos gelebt hatte, ist aus seiner Sicht eine Brandstiftung. Aber nur eine einfache, keine besonders schwere, wie die Bundesanwaltschaft sagt. Und auch nicht verbunden mit versuchtem Mord an einer Nachbarin und an zwei Handwerkern, die das Dachgeschoss des Hauses in der Frühlingsstraße 6 renovierten und zum Zeitpunkt des Feuers nicht im Haus waren.

Wolfgang Stahl arbeitet sich einen Tag lang an der These der Bundesanwaltschaft ab, Zschäpe sei Mitglied einer terroristischen Vereinigung gewesen. Anja Sturm versucht, die Persönlichkeit Zschäpes zu erklären, und setzt sich sogar mit der „europarechtlichen Problematik“ des Begriffes Terrorismus auseinander.

Sie bleibt ein Rätsel

Sturm ist die Verteidigerin, die wohl am meisten in diesem Prozess gelitten hat. Zschäpe soll ihr gegenüber besonders aggressiv gewesen sein, als es zum Bruch mit den drei Altverteidigern kam. Im Sommer 2013 verließ Sturm ihre Kanzlei in Berlin. Zuvor hatte der Kanzleichef ihr abgeraten, die Verteidigung Zschäpes zu übernehmen. Auch weil sie dadurch so eingebunden wäre, dass eine Übernahme anderer Mandate kaum möglich sei. Sturm wechselte nach Köln zu Zschäpes Verteidiger Wolfgang Heer. Der Stress, der Ärger zusätzlich zur Anstrengung, die Anklage im NSU-Prozess zu kontern, hat Spuren hinterlassen.

In der vergangenen Woche, am Mittwoch, kann sie nicht mehr. Mittags bricht sie das Plädoyer ab, die Stimme stockt. Sie fühlt sich krank, Richter Götzl hat nicht viel Verständnis, doch er lässt Sturm gehen. Am Abend wird dann der nächste Verhandlungstag aufgehoben, die Anwältin ist doch erheblich angeschlagen. Sie selbst spricht von einem Infekt. Ihre Augen sind müde, sie lächelt gequält – und hält dann doch noch durch.

Am Ende ihres Plädoyers sagt sie: „Wir wissen zu wenig, um hier ein abschließendes Bild entwerfen zu können.“ Zschäpe ist auch Sturm ein Rätsel geblieben. „Wir drehen uns alle im Kreis aus rationalen und irrationalen Erwägungen“, sagt Sturm. Sie mahnt die Richter, „moralische Schuld und strafrechtliche Schuld sind manchmal schwer auseinanderzuhalten“, „wir setzen in Sie das Vertrauen, diese Grenze genau beachten und bestimmen zu können“.

Mag sein, dass Heer, Stahl und Sturm ihr Plädoyer nicht nur für Zschäpe halten, sondern auch für sich selbst. Um zu beweisen, dass sie sich professionell verhalten, obwohl ihre Mandantin sie ausgebootet hat und sie selbst auch mehrmals ihre Entpflichtung beantragt hatten. Heer, Stahl, Sturm liefern Zschäpe das bestmögliche Plädoyer. Weiß sie das zu würdigen?

Zschäpe nimmt vor allem Heer in den Blick, mit leicht zusammengekniffenen Augen. Beeindruckt sie dessen Akribie? Vergleicht sie im Kopf vielleicht Heers Plädoyer mit dem ihres neuen Anwalts Hermann Borchert, der sich in seinem deutlich kürzeren Schlussvortrag an der „Einlassung“ Zschäpes aus dem Dezember 2015 entlanggehangelt hat, sogar bis zu zehn Jahre Haft für vertretbar hielt und nicht einmal die Entlassung aus der Untersuchungshaft forderte?

Vielleicht bezweifelt die Angeklagte aber auch, dass selbst ein ausgefeiltes Plädoyer wie das von Heer, Stahl und Sturm überhaupt noch wirken kann. Heer sagt zu Beginn seines Vortrags, ihnen sei bewusst, dass das Verteidigerplädoyer nur selten dazu führe, eine „vorgefasste richterliche Meinung zu ändern“. Heer glaubt wie fast alle Verteidiger und auch viele Opferanwälte, das Urteil stehe längst fest. Schon weil der Vorsitzende Richter Manfred Götzl nicht ein einziges Mal auch nur angedeutet hat, die Anklage könnte fehlerhaft sein. Viele Indizien sprechen gegen Zschäpe.

Nebenkläger sind verbittert

Eines ist die womöglich auch fatale Bemerkung in ihrer Einlassung, sie habe die Raubüberfälle befürwortet, da das erbeutete Geld – mehr als 600 000 Euro – das Leben im Untergrund möglich machte. Dass zumindest Böhnhardt und Mundlos die Beute auch zur Finanzierung der Anschläge nutzten, ging in der von Anwalt Borchert formulierten Aussage unter. Gegen Zschäpe spricht auch, dass sie nach der Selbsttötung von Böhnhardt und Mundlos die gemeinsame Wohnung in Zwickau anzündete, um Spuren zu vernichten; dass sie dann Exemplare der DVD mit dem Bekennerfilm des NSU verschickte. Zschäpe behauptet, sie habe dessen Inhalt nicht gekannt.

Es liegt allerdings weniger an Beate Zschäpe und ihren Anwälten, dass die Phase der Plädoyers extrem lange dauert. Der seit Beginn des Prozesses schwelende Streit zwischen der Bundesanwaltschaft und mehreren Prozessparteien bricht häufig aus. Die Ankläger werden heftig angefeindet, vor allem von Opferanwälten. Erst recht nachdem Bundesanwalt Herbert Diemer zu Beginn seines Plädoyers im Juli 2017 die in der Nebenklage häufig zu hörende Theorie, der NSU habe bei seinen Verbrechen auf Hintermänner zählen können, als „Fliegengesumme“ abtut. Nebenklagevertreter reagieren empört. Für sie steht „Fliegengesumme“ symbolhaft für die angebliche Ignoranz der Ankläger, den NSU auf das „Trio“ Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe zu reduzieren, anstatt nach Komplizen, womöglich V-Leuten des Verfassungsschutzes oder der Polizei, zu forschen. Nebenklageanwälte und ihre Mandanten – Angehörige der Ermordeten und überlebende Opfer der Anschläge – sind verbittert, weil dies auch signalisiert, dass die Defizite der Beweisaufnahme nicht zu heilen sind.

Elif Kubasik, deren Mann Mehmet 2006 in Dortmund erschossen wurde, sagt in ihrem kurzen Plädoyer, für sie wäre weitere Aufklärung „sehr wichtig gewesen“. Im Prozess seien ihre Fragen nicht beantwortet worden, „warum Mehmet? Warum ein Mord in Dortmund? Gab es Helfer in Dortmund? Sehe ich sie heute vielleicht immer noch? Es gibt so viele Nazis in Dortmund“. Besonders wichtig sei, „was wusste der Staat? Vieles davon bleibt unbeantwortet nach diesem Prozess“. Angela Merkel habe ihr Versprechen von 2012 nicht gehalten. Die Kanzlerin hatte bei der Gedenkfeier für die Opfer angekündigt, es werde alles getan, „um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken“.

Urteil eventuell im Juli

Dass die Plädoyers der Nebenkläger und ihrer Anwälte erst im November 2017 beginnen, zwei Monate nach den Schlussvorträgen der Bundesanwaltschaft, ist die Folge eines unerwarteten Konflikts. Bundesanwalt Diemer fordert am Schluss seines Plädoyers im September 2017 nicht nur die erwartet harten Strafen für Zschäpe und für Ralf Wohlleben, der die Beschaffung der Mordwaffe Ceska 83 dirigiert haben soll. Wohlleben soll zwölf Jahre in Haft bleiben – aber genauso auch André E., der unter anderem das Wohnmobil gemietet haben soll, mit dem Böhnhardt und Mundlos Ende 2000 zum ersten Anschlag in Köln fuhren. André E. und seine Anwälte sind geschockt.

Der im November 2011 in Zwickau festgenommene Rechtsextremist fühlte sich offenbar sicher, er war schon im Juni 2012 aus der Untersuchungshaft entlassen worden. Der Strafsenat unter Vorsitz von Richter Manfred Götzl lässt den Neonazi prompt in Gewahrsam nehmen, am nächsten Tag folgt der Haftbefehl. Sofort reagiert E.s Verteidiger mit einer Kaskade von Befangenheitsanträgen. Sie scheitern alle, kosten aber Zeit.

Am kommenden Dienstag soll noch einmal ein Sachverständiger zum Brand in Zwickau gehört werden. Möglich, dass Zschäpes Verteidiger und vielleicht auch andere Prozessparteien ihre Plädoyers anschließend ergänzen wollen. Danach können sich die Angeklagten noch einmal äußern. Spätestens am elften Tag nach den letzten Worten muss das Urteil verkündet werden, eventuell passiert dies noch im Juli.

Glaubhafte Reue gezeigt hat nur der Angeklagte Carsten S. Der schmale 38-Jährige hatte sich im Jahr 2000 von der rechten Szene entfernt, um seine Homosexualität offen leben zu können. Bei den anderen Angeklagten ist möglich oder gewiss, dass sie auch heute rechtsextrem sind. Wie André E. Dessen Verteidiger Herbert Hedrich verkündet mit fester Stimme: „Unser Mandant ist Nationalsozialist, der mit Haut und mit Haaren zu seiner politischen Überzeugung steht.“ Hedrich betont, „das Wort ,ich bin ein Nationalsozialist‘ hat heute hier im Saal Premiere“. Er klingt, als erwarte er Applaus.

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