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Die pure Lust am Experiment. Der "RM58" von Roman Modzelewski (rechts oben) ist eine Ikone des polnisches Designs.

© VZOR

Design aus Polen: Die Fünfziger gehen in Serie

Das Label VZOR entdeckte Klassiker des polnischen Designs wieder. Die einstigen Prototypen gibt es nun für alle.

Sein wahres Alter sieht man dem Stuhl „RM58“ nicht an. Er ist ein Kind seiner Zeit: organisch, rund, mit vier abgeschrägten schlanken Beinen, Fünfzigerjahre eben. Er würde ins Programm westlicher Designfirmen passen, doch das ging damals aus politischen Gründen nicht. „RM58“ ist eine Wiederauflage des gleichnamigen Stuhls von Roman Modzelewski aus dem Jahr 1958. Das Original ist heute im Victoria & Albert Museum in London zu bewundern. Es war der erste polnische Stuhl aus Polyester-Glasfaser-Laminat – eine komplett geschlossene organische Form ohne Ecken und Kanten, damals ohne Beispiel.

Heute ist der „RM58“ das Flaggschiff des neuen polnischen Labels VZOR, das sich den Klassikern des polnischen Designs verschrieben hat und in Zukunft auch Entwürfe junger heimischer Gestalter auf den Markt bringen will, die sich dieser Tradition verpflichtet fühlen. So sieht es Michal Woch, einer der drei Gründer von VZOR. Zusammen mit Jakub Sobiepanek und Krystyna Luczak-Surowka betreibt er seit 2012 das Label. Hervorgegangen ist es aus der Masterarbeit von Jakub Sobiepanek an der Warschauer Akademie der Bildenden Künste im selben Jahr, für die er eine Auszeichnung erhielt.

Das Trio hat eine Marktlücke entdeckt. Und einen Schatz gehoben. Denn von den Möbeln, die sie jetzt nach langer Vorbereitungszeit endlich in Serie herstellen, existierten bisher nur Prototypen oder Einzelstücke in Museen. In den Fünfzigerjahren muss es in Polen eine kreative Szene gegeben haben, die sich durchaus mit den westlichen Größen ihrer Zeit messen konnte. Es herrschte der gleiche Wunsch nach Erneuerung, die gleiche Lust am Experiment. Galionsfigur dieser Bewegung war Roman Modzelewski, 1912 in Litauen geboren und 1997 in Lodz gestorben. Er war nicht nur Maler, Designer, Bildhauer und Lehrer, sondern auch ein Künstler, der die Interdisziplinarität liebte. Nach seinem Studium an der Warschauer Akademie der Bildenden Künste leitete er von 1945 an die Akademie der Bildenden Künste in Lodz.

Le Corbusier wollte das Patent erwerben

Sein erster Stuhl aus Bugholz wurde 1957 auf der 2. Nationalen Designausstellung in Warschau mit dem zweiten Preis ausgezeichnet. Aber er experimentierte nicht nur mit der Flexibilität von Holz, sondern testete auch Kunststoffe und schuf so in Handarbeit 1958 seinen ersten Stuhl aus Glasfaser. In Polen war das mehr als revolutionär. 1961 erhielt Modzelewski sogar ein Patent dafür, fand aber keinen Hersteller.

Roman Modzelewski 1958 auf einem seiner ersten "RM58" in Warschau.
Roman Modzelewski 1958 auf einem seiner ersten "RM58" in Warschau.

© VZOR

Zwar zeigte sich Le Corbusier an der Produktion des Entwurfs in Frankreich interessiert und wollte das Patent erwerben, doch der Kalte Krieg machte ihm einen Strich durch die Rechnung. „Für die Regierung war dieses leichte robuste Material höchst interessant für militärische Zwecke, etwa im Flugzeugbau. Diese Kenntnisse wollte man nicht dem Klassenfeind überlassen“, erzählt Michal Woch auf der Kölner Möbelmesse 2017, wo er seine Prototypen erstmals ausstellte.

Modzelewski ließ sich durch die politische Entscheidung nicht beirren und suchte neue Anwendungsfelder für seinen Werkstoff: 1966 entwarf und fertigte er mit Zustimmung des britischen Designers Robert Tucker dessen Holzyacht „Silhouette“ neu aus Kunststoff. Es sollte nicht das letzte Schiff sein, das Modzelewski schuf.

Dank moderner Fertigungsmethoden gelingt es VZOR nun, die bahnbrechenden Entwürfe aus den Fünfzigern erstmals in Serie zu produzieren. „Sie bekommen eine Designqualität wie im Westen, aber Sie müssen deutlich weniger dafür bezahlen als für die großen Klassiker des Westens“, sagt Woch. Produziert wird in Polen. Alle Möbel sind hundertprozentige Kopien der Originale; die Erben der Designer haben ihr Okay gegeben.

Material war knapp im sozialistischen Polen

Mit seinen Ecken und Kanten tanzt Modzelewskis "RM57" aus der Reihe.
Mit seinen Ecken und Kanten tanzt Modzelewskis "RM57" aus der Reihe.

© VZOR

Die neuen Produktionsmöglichkeiten erfordern kleine Veränderungen, so sind etwa die Beine des „RM58“ nicht mehr fest mit dem Korpus verbunden, sondern werden extra geschraubt. Das spart Volumen bei der Verpackung. Die Sitzmulde wird nun im Rotationsgussverfahren aus einem Stück hergestellt – davon konnte Modzelewski nur träumen, er musste noch mit zwei Formen arbeiten. Dieses neue Verfahren erlaubt auch die Produktion einer matten Version des Möbels. Außerdem sind andere Farben möglich. Besonders behagliche erscheint der neue „RM58 Soft“ – die gepolsterte Version des Klassikers.

Auch Modzelewski hatte seinerzeit mit Materialien und Formen experimentiert. So entwarf er einen Stuhl aus kühn geformtem Bugholz – meist Ahorn oder Buche, die unter Wasserdampf gebogen werden –, den er auf eine vierbeinige dynamische Metallstruktur setzte. Es war wohl einer der ersten Stühle, die auf diese Weise entstanden. 1956 ersetzte er das Bugholz durch Kunststoff und überzeugte damit 1957 die Jury der Warschauer Designausstellung. Nun geht der Stuhl, leicht modifiziert, bei VZOR als „RM56 Wood“ in Serie. So wurde zum Beispiel eine neue Befestigung der Beine an der Sitzmulde entwickelt.

Geradezu kantig mutet dagegen der neu aufgelegte „RM57“ an, der nach dem einzig existierenden Prototyp geschaffen wurde: Geometrisch, eckig und durch diagonale Linien geprägt, ist er geradezu das Gegenstück zu seinen organisch geformten „Sitzkollegen“. Wie ein in der Mitte durchtrennter Kubus scheint er auf einem leichten, ausgestellten Metallgestell zu schweben.

Czeslaw Knothe: ein weiterer Pionier

Ein weiterer Pionier des polnischen Designs ist Czeslaw Knothe (1898-1985) – Bildhauer, Architekt und Designer. Er war seit 1926 Mitglied des Künstlerkollektivs LAD, später dessen langjähriger Direktor. Außerdem lehrte er an der Warschauer Kunstakademie. Bedeutend war für ihn die Möblierung des Jugendpalastes im Palast der Wissenschaft und Kultur in Warschau in den Fünfzigerjahren.

„Grid55“. Der einzige Prototyp dieses Gitterstuhls findet sich im Nationalmuseum Warschau.
„Grid55“. Der einzige Prototyp dieses Gitterstuhls findet sich im Nationalmuseum Warschau.

© VZOR

Material war knapp im sozialistischen Polen, und so experimentierte Knothe mit Drahtgeflechten, um aus ihnen Möbel zu formen. Draht gab es im Überfluss, und so entstand 1955 der „Grid55“, wie er jetzt bei VZOR heißt. Der einzige Prototyp dieses leichten Gitterstuhls findet sich im Nationalmuseum Warschau. Die seitlichen Lehnen wurden am oberen Rand einfach umgeklappt und bilden so dreieckige Armlehnen.

Knothes Stuhl gilt als innovativ, obwohl Harry Bertoias sehr ähnlicher „Diamond Chair“ bereits 1952 auf den Markt kam. Man darf gespannt sein, was VZOR noch in den Archiven findet. Bereits jetzt haben sie es geschafft, das polnische Design der Nachkriegszeit hinter dem ehemaligen Eisernen Vorhang hervorzuholen und in einen gesamteuropäischen Kontext zu setzen.

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