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Depressionen: Patient Psychiater

Nervenärzte leiden häufiger als viele andere Menschen an Depressionen. Der Oberarzt Michael Freudenberg war selbst betroffen – und wirbt nun bei seinen Kollegen für einen offenen Umgang mit der eigenen Krankheit

Im Berliner Kongresscentrum ICC geht es an diesem Tag zu wie in einem Bienenstock. Emsig eilen Menschen mit Namensschildchen am Revers in die Vortragssäle. Wie jedes Jahr treffen sich hier Psychiater und Psychologen zu ihrem größten Fachkongress.

Mitten in der Hektik bleibt ein Mann versteckt hinter der Garderobe stehen. Er hat Angst. Zwei Stunden lang überlegt er, wie er aus dem Gebäude herauskommt, ohne gesehen zu werden. Schließlich schleicht er hinaus. Von dunklen Gedanken getrieben, umkreist er den nahe gelegenen Teufelsberg, mustert die Hochhäuser. Jetzt und auch in den folgenden Tagen ist der Wille besonders groß, seinem Leben ein Ende zu machen. „Meine Unentschlossenheit hat mich gerettet,“ sagt er heute.

Der Mann heißt Michael Freudenberg. Er ist Arzt für Neurologie und Psychiatrie, Oberarzt und seit 26 Jahren im Krankenhausdienst – und selbst an einer Depression erkrankt. Doch auf dem Kongress im Jahr 2004 bemerkte niemand der rund 4000 Fachleute, was mit ihrem Kollegen nicht stimmte.

Es gibt viele Experten, die leiden oder litten wie Freudenberg. Darauf deuten die Ergebnisse einer Studie hin, die Forscher der Uni Ulm unlängst vorstellten. Sie hatten auf einem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) im Jahr 2006 anonym Fachkollegen nach eigenen Erfahrungen mit Depressionen gefragt. 45 Prozent gaben an, bereits an einer depressiven Episode gelitten zu haben. Zum Vergleich: In der Allgemeinbevölkerung erkranken nur rund 17 Prozent irgendwann im Leben an einer Depression.

Michael Freudenberg hat es geschafft. Drei Jahre nach den schrecklichen Erlebnissen ist er wieder zum DGPPN-Kongress nach Berlin gekommen. Diesmal steht er hinter dem Rednerpult im Saal 10 des ICC. Sein Thema: „Meine Erfahrungen mit Depression.“ Rund 450 Fachkollegen hören ihm zu. „Sicher auch viele Betroffene“, meint Freudenberg. Doch sein Appell an diese, sich an ihn zu wenden, bleibt ergebnislos. „Leider hat sich hinterher keiner bei mir gemeldet.“

Verheimlichen, bagatellisieren und kaschieren – die Angst, wegen einer psychischen Störung nicht mehr für voll genommen zu werden, quält auch erkrankte Behandler. „Gleichzeitig wenden viele ihr Wissen kaum auf sich selber an“, sagt Bernhard Mäulen, Spezialist für Ärztegesundheit. „Viele haben große Hemmungen, sich helfen zu lassen“. Schließlich geraten sie so tief in eine Depression, dass ihre Arbeit davon beeinträchtigt wird.

Auch Freudenberg reagierte bei seiner ersten Depression im August 2003 nicht fachgerecht. „Vor allem zu spät“, urteilt er im Rückblick.

Es fängt an mit Schlafstörungen und Grübelzwängen. Hinzu kommen Ängste und Unruhe. Der Psychiater nimmt hochdosiertes Johanniskraut, was nicht wirkt. Trotzdem arbeitet er ununterbrochen weiter, und zwar viel. Noch kann er die Fassade aufrechterhalten. Bis er nach fünf Monaten eine dauerhafte Tachykardie (hoher Puls) an sich feststellt. Er glaubt, das liege an einer Schilddrüsenüberfunktion. Ein Internist im benachbarten Krankenhaus macht unmissverständlich klar: „Das ist psychisch!“ Freudenberg, mittlerweile ein körperliches Wrack, meldet sich endlich krank.

Drei Wochen später, nach medikamentöser Therapie mit einem Antidepressivum (Mirtazapin) und Gesprächen mit einem Psychologen fühlt er sich wieder gut und kehrt zur Arbeit zurück.

Was folgt, entspricht dem Lehrbuch: Er dosiert das Medikament vorsichtig herunter. Dennoch erleidet er nach vier Wochen einen Rückfall, kehrt zurück zur alten Dosis, die nun nicht mehr wirkt. Das ist die Situation, in der Freudenberg schwerst depressiv trotz aller Warnungen seiner Frau zu dem Berliner Kongress fährt. Dort verhilft ihm seine Schwester zu einem Termin bei einem Facharzt, der ihn auf ein anderes Antidepressivum (Citalopram) umstellt. Es dauert rund sechs Wochen, die der Psychiater irgendwie zwischen Sessel und Sofa pendelnd und mit Unterstützung seines Psychotherapeuten und vor allem seiner Frau übersteht. Dann geht es ihm deutlich besser: „Irgendwann habe ich gemerkt, dass ich einen Kirchturm ohne Suizidgedanken angucken und einfach schön finden konnte.“ Seither fühlt sich Freudenberg, der seit 2003 durchgehend Medikamente nimmt, gesund.

Dass man seine Patienten als selbst Betroffener anders behandelt, glaubt Freudenberg nicht. „Aber ich kann ihnen besser Ängste nehmen“, meint er. Zum Beispiel, wenn sie aus seinem Munde hören, dass Depression nichts mit Versagen und Schwäche zu tun hat.

Michael Freudenberg, heute 60, hat es vergleichsweise schnell aus dem Tief geschafft. Andere müssen kapitulieren. So wie der schwer depressive holländische Psychiater Piet Kuiper, der in seinem Buch „Seelenfinsternis“ nicht nur sein Leiden beschreibt, sondern auch die Unfähigkeit, sich – selbst als Psychiater und Lehrbuchautor – zu helfen. „Nach einem harten Kampf musste ich meine Arbeit aufgeben“, schrieb er nach seiner Genesung. Andere Kollegen in der Psychiatrie gingen noch täglich zur Arbeit, obwohl sie schon einen konkreten Plan für ihren Suizid hatten. Und manche fanden nie die Kraft, sich helfen zu lassen.

Michael Freudenberg freut sich über Rückmeldungen anderer betroffener Psychiater an seine E-Mail-Adresse: ich.freumich@gmx.de Vom 20. bis zum 25. Juli treffen sich internationale Experten zum Psychologiekongress im Berliner ICC, die nächste DGPPN-Tagung findet im November statt.

Anke Hinrichs

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