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Wandern: Und ewig pfeift das Murmeltier

Im Unterengadin zeigt die Schweiz ihre schönsten Seiten. Die entdeckt man unbeschwert zu Fuß. Das Gepäck reist voraus, Etappe für Etappe.

Erst kürzlich sei es wieder passiert. Am späten Nachmittag klingelte bei Hüttenwirt Urs Krummenacher das Telefon: „Hallo, wir stehen mit unserem Auto am Ofenpass. Wie fahren wir jetzt weiter zu Ihnen?“ Krummenacher lächelt ein wenig gequält. „Manche Leute finden unsere Hütte im Internet und buchen eine Übernachtung, ohne genauer nachzulesen, wo sie eigentlich liegt“, sagt er. Denn es gibt keine Straße zur Chamanna Cluozza, dieser Berghütte mitten im Schweizer Nationalpark. 1914 wurde er als erster Park Mitteleuropas eingeweiht und mit seinen 172 Quadratkilometern gilt er nun als eines der bestgeschützten Naturgebiete. Heute gelangt man nur zu Fuß in das verborgene Graubündener Refugium.

Wir sind von Zernez heraufgekommen, über Wiesen und alte Ackerterrassen, durch einen lichten Lärchenwald und schließlich im steilen Zickzackkurs zur Hütte an der Cluozza-Schlucht. Es ist die erste Etappe einer sechstägigen Wandertour. Vier Stunden haben wir gebraucht. Urs Krummenacher schafft die Strecke in weniger als der Hälfte dieser Zeit. Nur wenn seine beiden noch nicht schulpflichtigen Kinder dabei sind, dauert es ein wenig länger. Wie lange? „Wir schauen nicht auf die Uhr“, sagt er, „wir genießen die Natur.“

Eiskaltes Waschwasser nach der Nacht im Matratzenlager

Seit Jahren vertauscht die Familie Krummenacher zwischen Ende Juni und Mitte Oktober die Wohnung in Zernez mit der Berghütte. Im Winter ist der 32-jährige Urs Skilehrer. Die Gästebetreuung im Sommer empfindet er als „schöne Alternative“. Eine ohne viel Komfort allerdings. Manche Leute, so erzählt er schmunzelnd, seien ein wenig überrascht angesichts der einfachen Ausstattung ihrer Unterkunft. So gibt es keine Duschen und das Wasser an den Open-Air-Waschplätzen rinnt eiskalt aus den Hähnen. Wer rechtzeitig bucht, kann immerhin auf ein Doppelzimmer mit Stockbetten hoffen, die Übrigen müssen mit dem Matratzenlager vorliebnehmen.

Am nächsten Morgen geht es höher hinauf. Eine junge Schweizerin – die zweijährige Tochter im Tragegestell auf dem Rücken – ist nur Minuten vor uns gestartet und schon nicht mehr zu sehen. Sie macht Meter, wir trödeln. Dabei müssen wir, unsere Tour hat den Gepäcktransport inklusive, nur den Tagesrucksack tragen. Aber wie soll man zügig vorankommen, wenn man immer wieder Pausen einlegt? Hier gilt es, eine Aussicht zu genießen, dort ein rosa Pflänzchen zu fotografieren und schließlich die putzigen Murmeltiere zu bestaunen, deren schrille Pfiffe, ihr Warnsystem, uns kilometerlang begleiten. Oben, am Sattel Murter, erspähen wir einen Steinbock, stolz aufgerichtet wie ein Osborne-Stier. Eine ganze Kolonie dieser Tiere soll hier leben.

Bei den letzten Wegkilometern der Etappe durchbricht hin und wieder Motorenlärm die Stille. Die kurvenreiche Straße zum 2149 Meter hohen Ofenpass hinauf ist eine beliebte Motorradstrecke. Und, oh Schreck, die kommende Übernachtung ist im Berggasthaus Buffalora reserviert – und das liegt mitten an der Straße. Doch nach Einbruch der Dämmerung kehrt Ruhe ein. Auch Biker werden müde, und schließlich wollen auch sie sehen, wo sie entlangheizen.

Auf den Spuren von Brunos Zwillingsbruder

Am kommenden Tag schlagen wir uns südöstlich der Ofenpassstraße in die Büsche und wandern zur Alp da Munt über die Alp Champatsch zum Dorf Lü. Beschaulich liegt es auf fast 2000 Meter Höhe – und hat die Sonne gepachtet. Botaniker würden sich hier natürlich nicht faul in ein Café setzen, sondern liebe seltene Orchideen suchen und Heilgewächse, die in und um Lü zu finden sein sollen.

Auf der Karte des Sporthotels Staila in Tschierv steht „Bärenmenü“. Ist aber zum Glück gar kein Fleisch von Meister Petz drin. Ein Foto von Bär Lumpaz, vom Hotelbesitzer selbst aufgenommen, hängt allerdings an der Wand. Lumpaz war der Zwillingsbruder von Bruno, wird uns erklärt. Monatelang trieb er sich im Sommer 2005 hier herum – und wurde von vielen geliebt. Doch irgendwann verschwand Lumpaz und ward nie wieder gesehen. Die „Basler Zeitung“ mutmaßte, dass er „hinterrücks abgemurkst“ wurde. Die Gerüchte verstummen seither nicht. Kaum ein Einheimischer im Unteren Engadin, der Lumpaz nicht irgendwann mal zu Gesicht bekommen haben will. Oben am Ofenpass hat ein Bauer behauptet, ihn auf der Edelweißwiese hinter seinem Haus gesehen zu haben. Lumpaz, da sind sich die Leute sicher, wird nicht der einzige Bär sein, der – aus dem Trentino kommend – sich nach Graubünden verirrt. Erst kürzlich habe man wieder Spuren von Bärentatzen gesichtet.

Diese Bären sind keine Knuddeltiere, murren Einheimische. Und immer öfter kommen auch Wölfe vorbei. Grund genug für die Bauern, sich Herdenschutzhunde anzuschaffen. „Groß sind sie und weiß, aber eben nicht so brav wie Golden Retriever“, sagt Annelise Albertin vom Tourismusverband Val Müstair. Sie wirkten aggressiv, und das sei ein Problem für die Wandergäste. An manchen Weidezäunen hat man nun Tafeln mit Verhaltensmaßregeln aufgehängt. Man solle die Hunde ignorieren, wenn sie angelaufen kämen. Die Tiere sollten nicht angestarrt werden und auf keinen Fall sollte man versuchen, sie zu streicheln. „Wenn man sich vernünftig verhält, passiert nichts“, versichert Annelise Albertin.

"Ora et labora" gilt noch immer im Kloster von Müstair

Nach einigen Wandertagen unterschreitet man locker die im Plan angegebene Marschzeit. Da lässt sich morgens noch ein bisschen Kultur einbauen. Und Müstair, das letzte Graubündner Dorf vor der Grenze zum Südtiroler Vinschgau, hat immerhin ein Weltkulturerbe zu bieten: das Kloster St. Johann. Im achten Jahrhundert war es unter Karl dem Großen gegründet worden. Bis zum zwölften Jahrhundert blieb es ein Männerkloster, dann zogen Schwestern ein. Elf Benediktinerinnen leben noch hier, streng nach der Regel „ora et labora“. Von der ursprünglichen Anlage ist zum Beispiel die Heiligkreuzkapelle übrig geblieben. „Die hat einen Holzboden aus dem achten Jahrhundert, und der trägt heute noch“, sagt Museumsleiterin Stefanie Osimitz. Stunden könnte man hier herumgehen und staunen. 1200 Jahre Baugeschichte sind zu besichtigen. Fundstücke wie bunte karolingische Gläser sind ausgestellt und Knochenflöten aus dem 8./9. Jahrhundert. Im Wirtschaftshof habe man diese gefunden, und vermutlich wurden sie von Pilgern vergessen. „Eine der Flöten konnte ich sogar noch anspielen“, sagt Stefanie Osimitz und wundert sich selbst, wie man nach 1200 Jahren noch einen Ton rauskriegte.

Draußen wartet die Natur. Wir wandern durch den höchstgelegenen Arvenwald Europas. Ab und zu hört man das durchdringende Trä-trä-trä des Tannenhähers. Der Vogel mit den unregelmäßigen Tupfen im Federkleid verspeist nur Arvennüsse, die er – Stück für Stück – aus den Arvenzapfen klaubt. Jeder einzelne Vogel sammelt bis zu 100 000 Arvennüsse und versteckt einen Großteil für die Wintersaison. Natürlich kann er sich nicht merken, wo er sie alle verbuddelt hat. 20 Prozent der Arvennüsse, so schätzen Experten, findet er nicht mehr. So wachsen die jungen Arven heran. Um den Bestand dieses Waldes muss man nicht bangen.

Unterwegs im Indianerland

Auf dem Weg nach S-charl durchqueren wir Indianerland. Jedenfalls würden wir uns nicht wundern, wenn hinter den hohen, grün schimmernden Felsspitzen plötzlich Apachen und Komantschen auftauchten und in die weite Ebene ritten. Grandios ist diese Landschaft. Wir verleihen dieser Etappe fünf Sterne. In S-charl besteigen wir programmgemäß den Postbus nach Sent. Und fragen die Wirtin vom dortigen Hotel Rezia gleich mal, wie man S-charl eigentlich korrekt ausspricht. Rätoromanisch sei das, sagt sie und gesteht: „Ich kann es auch nicht wirklich gut.“ Aus Basel habe es sie vor Jahren hierher verschlagen, aber ihre Kinder, klar, die haben Rätoromanisch in der Schule gelernt. Erst vom vierten Schuljahr an komme Deutsch hinzu, dann Französisch. Wir finden die Sprache praktisch, denn der Gruß Allegra, zu Deutsch „Freue dich“, passt doch den ganzen Tag.

Mit dem Postbus fahren wir eine gute halbe Stunde ins Val Sinestra, wo die nächste Etappe beginnt. Die Straße endet am Kurhotel. Ein Palast aus der Jahrhundertwende. Nieselregen und Nebelschwaden lassen das Anwesen jetzt zu einem Spukschloss werden. Welch eine Location für einen Gruselfilm.Wir haben keine Zeit für ein zweites Frühstück. Über tausend Höhenmeter sind heute gefordert, bis zum gut 2600 Meter hohen Fimberpass müssen wir hinauf. Mit müden Beinen erreichen wir spätnachmittags die Heidelberger Hütte. Sie gehört dem deutschen Alpenverein, steht auf Schweizer Boden und wird von Österreichern geführt. Ein großes solides Haus, nicht nur eine Blockhütte wie die Cluozza. Und warme Duschen gibt es auch.

"Wir haben keine Lust auf Shopping"

Wir machen uns fertig für die Grenzüberquerung. Eine Weile haben wir Österreich unter den Füßen, bis wir beim Zeblasjoch wieder in die Schweiz kommen. Immer langsamer gehen wir, wollen nicht wahrhaben, dass dies der letzte Wandertag ist. Jetzt, wo man sich so schön eingelaufen hat.

Bevor wir Samnaun erreichen, preisen schon mehrere Schilder den zollfreien Einkauf im Ort. Dutzende Boutiquen stellen dort namhafte Labels „zu Superpreisen“ zur Schau. Wir haben keine Lust auf Shopping. Wir sehnen uns schon jetzt in die stille Bergwelt zurück. Immerhin, rund sechzig Murmeltiere gibt es im Ort, aber die sind übergroß und neckisch bunt bemalt. Für jene Gäste, die in Samnaun eine billige Tankfüllung für ihre teuren Autos bekommen, mögen die Figuren ein Spaß sein. Wir denken an die echten, die manchmal so vorwitzig Männchen machten vor ihren Höhlen.

Die Unterkunft im Hotel zur Post hat zu Recht vier Sterne. Und das Gamsragout mit Preiselbeeren und Serviettenknödeln schmeckt wirklich gut. Aber warum, um Himmels willen, müssen wir beim Abendessen diesen Dudelfunk mit Werbeblocks ertragen? Wir sind keine gewöhnlichen Gäste. Wir kommen aus einer anderen Welt. Und träumen in der Nacht, dass Lumpaz mit Murmeltieren Ringelreihen tanzt.

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