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Trügerische Idylle. Männer in Schutzkleidung messen die Radioaktivität innerhalb der Sicherheitszone, die im Umkreis von 15 Kilometern um Tschernobyl errichtet wurde.

© dpa

Rückblick: Tschernobyl explodierte vor 25 Jahren

Das bisher größte Unglück in einem Kernkraftwerk geschah in Tschernobyl im April 1986 – zum Jubiläum werden Exkursionen angeboten.

Turnusmäßige Wartungsarbeiten im Kernkraftwerk Tschernobyl führten vor fast 25 Jahren – in der Nacht zum 26. April 1986 – zum bisher größten Unfall in der Geschichte der friedlichen Nutzung der Atomenergie und zu einer der schlimmsten Umweltkatastrophen. Zwei kurz hintereinander erfolgende Explosionen zerstörten Reaktor Nummer vier und das über tausend Tonnen schwere Betondach der Schutzummantelung. Die Trümmer wurden im Umkreis von mehreren hundert Metern verstreut. Wind trug die radioaktive Wolke nach Westen. Der Hauptteil der giftigen Partikel ging über der Ukraine, im Süden Weißrusslands und im Südwesten des europäischen Teils der Russischen Föderation nieder, wo später Tausende an Krebs erkrankten.

Erhöhte radioaktive Belastung des Bodens wurde kurzzeitig auch in Westeuropa und in Skandinavien gemessen. Die Behörden dort empfahlen der Bevölkerung, vorübergehend auf den Verzehr von Salat, anderem Frischgemüse und frischer Milch zu verzichten.

Die Sowjetunion dagegen versuchte zunächst in altbewährter Manier, die Katastrophe zu vertuschen; obwohl der ein Jahr zuvor zum KP-Generalsekretär gewählte Michail Gorbatschow den Umbau der Gesellschaft bereits auf den Weg gebracht hatte. So hielt die Leitung des Kraftwerkes noch bis zum Abend des 26. Aprils – zwölf Stunden nach der Explosion – an ihrer Version fest: Der Reaktor sei intakt geblieben, steht in der Meldung nach Moskau. Die Evakuierung der Stadt Pripjat, wo sechs Kilometer vom Kraftwerk entfernt der Großteil der Belegschaft wohnt, beginnt daher mit 24-stündiger Verspätung. Sie erfolgt chaotisch und erinnert in ihrer Brutalität an die 1944 von Stalin angeordnete Umsiedlung angeblich nicht loyaler Völker wie das der Tschetschenen und der Wolgadeutschen.

Nichts dürfen die 48 000 Einwohner von Pripjat mitnehmen, als sie sich am 27. April in die übervollen Busse quetschen, deren genaues Ziel zunächst nicht einmal die Fahrer und die Rettungsmannschaften aus dem Ministerium für Katastrophenschutz kennen. Vereinzelt lodern noch Brände auf dem Kraftwerksgelände, wo gerade die letzten zwei noch aktiven Reaktoren abgeschaltet werden, während Männer in weißen Schutzanzügen mit Masken vor den Gesichtern – Soldaten der chemischen Truppen der Sowjetarmee – das Katastrophengebiet mit Drahtverhauen weiträumig absperren: Ein Areal mit einem Durchmesser von etwa dreißig Kilometern. „Zone der Entfremdung“ wird das Gebiet, später von offiziellen Stellen genannt. Menschliches Leben, so Experten, sei für mehrere Jahrhunderte in der „Zone“, zu der ein knappes Dutzend Siedlungen gehört, nicht möglich.

Nur einige Monate nach der Katastrophe kehren die ersten Bewohner dennoch zurück in die verlassenen Häuser, bauen auf der verseuchten Erde ihrer Vorgärten und Felder Gemüse und Kartoffeln an, sammeln Pilze und Beeren in den verstrahlten Wäldern und trinken die Milch von Kühen, die kontaminiertes Gras gefressen haben. Die Behörden sind machtlos und erklären die Rückkehrer euphemistisch zu Neusiedlern. Inzwischen sind dies rund 8000 Menschen.

Der Besuch bei einer Neusiedler-Familie gehört auch zum Standard-Programm von Exkursionen, die das Kraftwerk – pünktlich zum 25. Jahrestag der Katastrophe Ende April – für den Massentourismus öffnen will. Kostenpunkt: 100 US- Dollar pro Nase. Für einen geringen Aufpreis kann man Angeln im einstigen Kühlwasserbecken des Unglücksreaktors dazu buchen. Auch Schutzkleidung. Obwohl man auf diese nach Meinung des Veranstalters getrost verzichten kann: Selbst bei einer Vier-Tage-Tour durch die Zone wäre die Strahlenbelastung für Besucher geringer als bei einem Transatlantikflug. Die Veranstalter rechnen mit regem Zuspruch. An Kinder, Hunde und Schwangere sollen dennoch keine Tschernobyl-Tickets verkauft werden.

Anders als jetzt in Japan erfuhr die Welt von dem Unglück in Tschernobyl offiziell erst mit zweitägiger Verspätung und dann scheibchenweise. Am 28. April meldet die amtliche Nachrichtenagentur Tass einen „Unfall“, tags darauf ist bereits von einer „Katastrophe“ die Rede. Erste Bilder zeigt das sowjetische Staatsfernsehen erst am 30. April: Aufnahmen eines Werkfotografen, die retuschiert wurden, um die Tragik zu verharmlosen. „Wenn wir die Öffentlichkeit informieren“, so Gorbatschow wörtlich auf der nichtöffentlichen Sitzung des ZK der KPdSU am 29. April, „sollten wir sagen, dass das Kernkraftwerk gerade renoviert wurde, damit kein schlechtes Licht auf unsere Ausrüstung geworfen wird.“

Offiziell äußert Gorbatschow sich im Staatsfernsehen erst am 5. Mai, als man in Tschernobyl versucht, dem Feuer mit gasförmigem Stickstoff beizukommen. Dies hat jedoch einen unerwünschten Nebeneffekt: Die Wärme im Kern des Reaktors steigt dadurch wieder an, was zu erneuter Freisetzung radioaktiver Partikel führt.

Später wird dem Unglücksreaktor ein Betonsarg übergestülpt, der die Katastrophe in heißer Form konserviert: Bis zu 180 Tonnen geschmolzener, inzwischen allerdings teilweise erstarrter Brennelemente aus Uran, Plutonium und Graphit sowie kontaminierter Sand.

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