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Wirtschaft: Die stille Reserve

Schon bald könnten der Wirtschaft die jungen Fachkräfte ausgehen: eine Chance für die Alten

Berlin - Ökonomie ist zuweilen eine triste Wissenschaft. Vor allem, wenn es um die Alterung der Gesellschaft und um die Frage geht, was dieser Prozess für Deutschlands Wirtschaft bedeutet. „Ich würde ja gerne hoffnungsvollere Voraussagen für Jahrzehnte treffen, die vor uns liegen“, klagt der Wirtschaftsexperte Adrian Ottnad. „Allein, das geben die Daten nicht her.“

Ottnad erforscht am Bonner Institut für Wirtschaft und Gesellschaft den demografischen Wandel. Er sieht, wie die meisten anderen Ökonomen, trübe Zeiten auf die Deutschen zukommen, wenn die Zahl der Jungen sinkt und die der Alten steigt. Beispielsweise werde dann die Produktivität – die wichtigste Marke für Wachstum – zurückgehen, weil Menschen um die 30 am innovativsten sind. „Dadurch könnten Firmen und Universitäten an Innovationskraft verlieren“, warnt Ottnad. Die Folgen: weniger Wachstum, Steuereinnahmen und Zinsen und zugleich mehr Abgaben und Staatsschulden.

Die drohenden Wohlstandsverluste ließen sich durch eine verlängerte Lebensarbeitszeit mildern, sagt Axel Börsch-Supan, Ökonomieprofessor in Mannheim und Chefberater von Wirtschaftsminister Michael Glos (CSU). Dazu müssten Arbeitsgesetze wie der Kündigungsschutz gelockert werden, damit die Unternehmen wieder mehr Ältere einstellen; das tatsächliche Rentenalter müsste steigen.

Damit ältere Mitarbeiter aber möglichst lange und effektiv arbeiten können, müssen sich auch die Unternehmen darauf einstellen – und beispielsweise mehr in die Qualifizierung ihrer Angestellten investieren. „Bisher ist es so, dass die Weiterbildung ab einem bestimmten Alter abbricht“, sagt Heribert Engstler vom Deutschen Zentrum für Altersfragen. Innovativ ist der Ansatz der Redi-Group. Der Dienstleister qualifiziert in seinem Bremer Ausbildungszentrum Mitarbeiter von Automobilherstellern und -zulieferern. „Gerade ältere Angestellte haben oft Nachholbedarf bei Sprachen oder Computerkenntnissen“, sagt Manfred Hecht, kaufmännischer Geschäftsführer. Im eigenen Unternehmen beschäftigt Redi gezielt Ältere. Die Hälfte der im vergangenen Jahr Eingestellten ist über 50, von insgesamt 130 Ingenieuren der Zeitarbeitsfirma sind das sogar mehr als zwei Drittel. „Die Industrie fragt nach fertigen Leuten“, sagt Hecht. Wer jahrelang in der Automobilbranche gearbeitet habe, sei als Berater viel interessanter als ein Berufsanfänger.

Was Redi schon praktiziert, will die Regierung mit ihrer „Initiative 55 plus“ erreichen. Deshalb erhalten Betriebe Lohnkostenzuschüsse, wenn sie einen Arbeitslosen über 50 einstellen, Weiterbildungen werden vom Staat bezahlt.

Hintergrund der Maßnahmen ist, dass 60 Prozent aller Unternehmen in Deutschland keine Menschen über 50 mehr beschäftigen – ein Grund für die hohe Arbeitslosigkeit im Alter. Laut des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) waren 2004 12,8 Prozent der 55- bis 64-Jährigen ohne Job; nur rund 39 Prozent von ihnen arbeiteten noch. Im internationalen Vergleich ist das sehr wenig (siehe Grafik).

Mitschuld daran hat die lange verbreitete Annahme, ältere Menschen nähmen jüngeren die Jobs weg. So wurden Ältere in Frühverrentung und Altersteilzeit geschickt. Eine fatale Entwicklung, sagt Werner Eichhorst, Arbeitsmarktexperte am Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA). „Das hat sich verselbstständigt mit der Folge, dass sich rechtfertigen musste, wer länger arbeiten wollte.“ Der Arbeitsmarkt sei aber kein kompaktes Gebilde, in das Ältere nur als „Reserven“ hereinkönnten, wenn die Wirtschaft brumme. In Ländern mit hoher Alterserwerbstätigkeit sei die Jugendarbeitslosigkeit eher gering.

Der Jugendwahn könnte bald schon ein Ende haben. Laut IZA werden bis 2015 sieben Millionen Fachkräfte fehlen. „Die Arbeitgeber finden einen immer kleineren Pool an qualifizierten Arbeitskräften vor“, prophezeit Eichhorst. Die Zahl der Jüngeren wird nicht ausreichen, um den Bedarf der Unternehmen zu decken. So schlossen im letzten Jahr nur 8000 Elektrotechniker ihr Studium ab; 10 000 hätten es eigentlich sein sollen. „Den für die Zeit nach 2010 prognostizierten Fachkräftemangel haben wir in manchen Branchen heute schon“, sagt Eichhorst. Ingenieure, Manager, aber auch Krankenschwestern und -pfleger werden händeringend gesucht. Dennoch gibt es in Deutschland rund 65 000 Ingenieure ohne Job – fast die Hälfte von ihnen ist älter als 50 Jahre.

Diesen Missstand will die Deutsche Seniorenliga (DSL) beseitigen helfen. „24 Millionen Ruheständler haben wir in Deutschland, darunter sind viele ehemalige Fach- und Führungskräfte – ein enormes Reservoir an Wissen“, sagt DSL-Geschäftsführer Erhard Hackler. Mit der Initiative „Erfahrung Deutschland“ will die DSL Experten im Ruhestand an mittelständische Unternehmen vermitteln. Die betreffen die demografischen Veränderungen am stärksten. Aus einer Datenbank mit 5000 Experten sollen Firmen ab Herbst dieses Jahres auswählen können. Die Dauer hänge von dem jeweiligen Projekt ab: Ein paar Wochen, aber auch zwei, drei Jahre wären möglich. Hackler beobachtet ein Umdenken: „Ältere werden wieder stärker geschätzt.“ Sie punkten vor allem mit ihrer Erfahrung. So hätten Banken erkannt, dass ältere Kunden lieber von erfahrenen Mitarbeitern beraten würden.

In Ostdeutschland ist die Lage besonders dramatisch – dort werden schon in diesem Jahr mehr Arbeitnehmer über 50 als unter 30 sein. Deshalb hat der Autobauer BMW bei seinem neuen Leipziger Werk von Beginn an darauf geachtet: Ein Viertel der in den letzten drei Jahren eingestellten Mitarbeiter ist über 40 Jahre alt, fünf Prozent gar über 50. „Wir wollen eine ausgewogene Mitarbeiterstruktur“, sagt Sprecherin Manja Ihle, „um nicht irgendwann vor der Situation zu stehen, dass ein Großteil unserer Mitarbeiter gleichzeitig in den Ruhestand geht.“

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