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Was der Gesetzgeber als Ausnahme vorgesehen hat, wird in Berlin zur Regel: Die Bezirke weisen immer mehr Milieuschutzgebiete aus.

© Rita Böttcher

Milieuschutz: „An den Haaren herbeigezogen“

In der City West soll es vier neue soziale Erhaltungsgebiete geben. Die in Gutachten gekleidete Begründung wird wegen methodischer Mängel kritisiert

Sie haben es wieder getan. Die Zahl der Milieuschutzgebiete in Berlin wächst weiter an. Aus dem Flickenteppich wird langsam aber stetig eine geschlossene Decke, die sich über Berlin legt und die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen hemmen und Luxusmodernisierungen unmöglich machen soll. Milieuschutz ist im Baugesetzbuch als Ausnahmeregelung definiert. Nachdem Friedrichshain-Kreuzbergs grüner Baustadtrat Florian Schmidt die Ausnahme mehr und mehr zur Regel werden lässt, holt Oliver Schruofenegger, grüner Baustadtrat von Charlottenburg-Wilmersdorf, nun auf. In seinem Bezirk gab es bisher nur zwei Erhaltungsgebiete: Gierkeplatz und Mierendorf-Insel.

Am frühen Mittwochabend empfahl der Stadtentwicklungsausschuss der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) Charlottenburg-Wilmersdorf nun die Ausweisung von gleich vier weiteren Kiezen: Alt-Lietzow, Karl-August-Platz, Jungfernheide und Richard-Wagner-Platz. Erwartungsgemäß votierte die rot-grün- rote BVV-Mehrheit im Ausschuss dafür – gegen die Vorlage CDU und FDP. Die AfD ist nicht im Ausschuss vertreten. Die BVV wird den endgültigen Beschluss wohl in ihrer Sitzung am 22. April fassen. Alles im rot-grün-roten Bereich also? Keineswegs. Denn das renommierte Forschungsinstitut Empirica (Berlin) zweifelt die Grundlagen an, die der aktuellen Entscheidung zugrunde liegen.

"Milieuschutz jetzt!" steht am 27.03.2015 in Berlin auf einem Transparent an einem Haus am Kottbusser Damm. Mit einem Protestzug demonstrierten rund 250 Menschen gegen die Räumung des alternativen Kulturzentrums Allmende in Berlin-Kreuzberg. Ob die Ausweisung von "Sozialen Erhaltungsgebieten" tatsächlich die gewünschten Effekte bringt, wurde bislang nicht verifiziert.
"Milieuschutz jetzt!" steht am 27.03.2015 in Berlin auf einem Transparent an einem Haus am Kottbusser Damm. Mit einem Protestzug demonstrierten rund 250 Menschen gegen die Räumung des alternativen Kulturzentrums Allmende in Berlin-Kreuzberg. Ob die Ausweisung von "Sozialen Erhaltungsgebieten" tatsächlich die gewünschten Effekte bringt, wurde bislang nicht verifiziert.

© Paul Zinken/picture alliance / dpa

Dem Tagesspiegel liegt exklusiv der Empirica-Endbericht zur „Bewertung der Aussagekraft der vertiefenden Untersuchung zur Überprüfung der Anwendungsvoraussetzungen sozialer Erhaltungssatzungen in sechs Gebieten in Charlottenburg-Wilmersdorf“ vor. Hinter dem sperrigen Titel verbirgt sich der Auftrag des „Vereins zur Förderung von Wohneigentum in Berlin e.V.“, ein vom Bezirk beauftragtes Gutachten der Stadtentwicklungsgesellschaft S.T.E.R.N. auf Sinnhaftig- und Stichhaltigkeit zu überprüfen. Im Ergebnis attestiert Empirica den S.T.E.R.N.-Deutern eine unwissenschaftliche Vorgehensweise. Der erhobene Vorwurf, in einer empirisch kniffligen Gemengelage mit Textbausteinen zu arbeiten, würde wohl jeden Studierenden und jede Studierende bereits im ersten Semester zum Erröten bringen – von Politikern, deren Promotionen überprüft werden, ganz zu schweigen. Mehr noch: „Die Auswahl der verwendeten Indikatoren wird durchgehend nicht oder nur mit einem Satz begründet, der aber keine Begründung, sondern nur eine Behauptung enthält.“

Forschungsinstitut Empirica liest im S.T.E.R.N.-Bericht „Behauptungen, keine Begründungen“

Harald Simons, Vorstand der Empirica AG, Professor an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig, hat in der Immobilienbranche einen guten Ruf. Der Volkswirtschaftler ist einer der profiliertesten Immobilienexperten Deutschlands. Und einer der „Immobilienweisen“ des Zentralen Immobilienausschusses (ZIA). Er legt auf Anfrage gerne nach: „Das Problem besteht im Kern darin, dass Gutachten erstellt werden, die zwar eine Fülle von Daten enthalten, aber weder allgemein noch im Detail geeignet sind, das Erfordernis der Ausweisung sozialer Erhaltungsgebiete wirklich schlüssig zu belegen“, sagt Simons. Das sei keine Frage des politischen Hintergrundes, sondern es betreffe methodische Schwächen, die schon in Seminararbeiten von Studierenden nicht akzeptiert werden würden. „Die verwendeten Indikatoren sind meist nicht valide“, sagt der Professor: „Meist wird nur ein Wert genannt ohne das einschätzbar ist, ob der Wert nun hoch oder niedrig ist. Teils wird die Auswahl verwendeter Indikatoren gar nicht begründet, teils wird eine Begründung angegeben, die aber lediglich eine Behauptung ist. Vor allem werden keine städtebaulichen Folgen beschrieben, obwohl gerade diese vom Gesetz als Begründung für ein behördliches Eingreifen in Erhaltungsgebieten gefordert werden. Die Reihe der Beispiele ließe sich noch weiter fortsetzen, und das Ergebnis ist, dass sich die Politik nicht auf ein solches Gutachten stützen kann, wenn sie den Anspruch erhebt, rational und evidenzbasiert zu agieren.“

Ob sich die politisch Handelnden der Tragweite ihrer Entscheidungen in diesen Fällen immer bewusst sind? Bereits nach dem Aufstellungsbeschluss für ein Milieuschutzgebiet können Genehmigungen von Modernisierungen und Umwandlungen auf ein Jahr zurückgestellt werden. In dieser Zeit erfolgt die Überprüfung, ob eine Ausweisung des Milieuschutzgebietes im Sinne des Baugesetzbuches möglich ist. In den Bezirken – siehe Charlottenburg-Wilmersdorf – dauert es oft nur noch wenige Wochen zwischen der ersten Diskussion über die Möglichkeit, ein Gebiet auszuweisen und dem Aufstellungsbeschluss in der BVV.

Milieuschutzgebiete gibt es in Berlin seit zwanzig Jahren

Das Geschehen bei der Ausweisung von Milieuschutzgebieten ist in fast allen Berliner Bezirken äußerst dynamisch. Milieuschutzgebiete gibt es in Berlin seit 1991: Die Bezirke Tiergarten und Kreuzberg befürchteten nach dem Hauptstadtbeschluss zugunsten Berlin Verdrängungseffekte. In den folgenden Jahren stellte vor allem Pankow Kieze unter Milieuschutz. Auf den ersten Blick wohnen indes in den seit längerem bestehenden Milieuschutzgebieten – wie am Helmholtzplatz – überwiegend einkommensstarke Haushalte; die Angebotsmieten liegen meist über dem Berliner Durchschnitt. Der Erfolg der Maßnahmen ist unklar: Der tatsächliche Nutzen wurde bisher nicht verifiziert – wie auch? Bei der Ausrufung von Milieuschutzgebieten spielen meist Befürchtungen die entscheidende Rolle.

Wolfgang Tillinger, Sprecher für Stadtentwicklung in der SPD-Fraktion und stellvertretender Vorsitzender im Ausschuss für Stadtentwicklung, sagte am Mittwoch ganz offen: „Wir reden von Situationen, die wir so gar nicht sehen. Es werden Bauanträge gestellt, es werden auch die Abrissgenehmigungen erteilt: Das muss flächendeckend verhindert werden. Es kann nicht verlangt werden, dass wir mehr als wir es können, Wohnungsbau betreiben, wobei der Wohnungsbau, den wir betreiben, sich Charlottenburger nicht mehr leisten können. Und das ist Grund für Milieuschutz.“ Tillinger wünscht sich flächendeckenden Milieuschutz: „Mehr ist zu diesem Thema nicht mehr zu sagen.“

SPD will Abrisse flächendeckend verhindern

Während Niklas Schenker (Die Linke) in der Ausschusssitzung auf die Expertise der S.T.E.R.N-Forscher vertraut, zweifelt Johannes Heyne, FDP-Fraktion Charlottenburg-Wilmersdorf, das fragliche Werk an: „Die Gutachten sind teilweise wortgleich, aber damit wiederholt sich möglicherweise auch die Widersprüchlichkeit der Gutachten in sich.“ Einerseits werde als Anlass für die Ausweisung der Gebiete der Anstieg der wachsenden Bevölkerung in der Gesamtstadt angeführt. Zwei Seiten weiter werde aber ausgeführt, dass in Charlottenburg-Wilmersdorf ein geringerer Bevölkerungszuwachs festzustellen sei: „Was möchte der Verfasser uns damit sagen?“, fragt Heyne. Außerdem bewege sich das  Einkommen von Charlottenburgern und Wilmersdorfern im Schnitt „über der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Berliner Gesamtbevölkerung“. Heyne will eine durchschnittliche Nettokaltmietbelastung in Höhe von 16,89 Prozent bei einem durchschnittlichen Haushalts-Nettoeinkommen von 2000 Euro errechnet haben. Dreißig Prozent werden in der Faustregel als hinnehmbar angenommen. Das Gutachten von S.T.E.R.N. berücksichtige außerdem nicht, dass es ein klimapolitisches Ziel sei, Wände und Dächer zu dämmen. Dies dürfe nicht mit Luxusmodernisierungen in einem Topf geworfen werden. „Ich gehe von gerichtlichen Auseinandersetzungen aus“, sagte Heyne: „Wir werden Probleme im Bezirk bekommen.“

Der Stadtentwicklungsausschuss hörte einen Gast, der sich als Architekt zu erkennen gab: „Ich frage mich, für wen Sie das machen. Das Gutachten ist an den Haaren herbeigezogen. Ich verstehe nicht, warum man in Charlottenburg Milieuschutz machen muss. Wen wollen Sie schützen? Zinshäuser werden dann gerne an größere Gesellschaften verkauft – Sie erreichen das Gegenteil dessen, was Sie erreichen wollen.“

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