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Schuldnerberatung: Jeder siebte Berliner ist überschuldet

Trotz Verbraucherinsolvenzverfahren bleiben viele auf ihren Verbindlichkeiten sitzen. Wie kommt man wieder auf die Beine?

Berlin - „Die Menschen binden sich immer häufiger langfristig“, sagt Frank Wiedenhaupt. Sie lassen das Kreditkartenkonto im Soll, sie finanzieren per Ratenzahlung das Auto oder den Flachbildfernseher. „Wenn sich dann plötzlich die Einkommenssituation ändert, dann knallt’s.“ Wiedenhaupt ist Schuldnerberater in der Neuköllner Beratungsstelle Neue Armut. Arbeitslosigkeit, unwirtschaftliche Haushaltsführung, aber auch Scheidung oder Tod des Partners – Wiedenhaupt kennt die Gründe, warum immer mehr Menschen in die Schuldenfalle geraten.

Laut Creditreform-Schuldneratlas war im vergangenen Jahr jeder zehnte Bundesbürger überschuldet. In der Hauptstadt waren es insgesamt 400 000 Personen – jeder siebte Einwohner. Berlin ist neben Bremen damit das Bundesland mit den meisten Schuldnern. Die Verschuldungshöhe pro beratener Person lag in der zweiten Jahreshälfte bei 32 265 Euro. In Neukölln kann sogar jeder Fünfte seine Verbindlichkeiten nicht aus eigener Kraft begleichen, das ist trauriger Rekord im Vergleich der Berliner Bezirke. Und es dürften noch mehr werden, wenn durch die Wirtschaftskrise weitere Arbeitsplätze wegfallen, befürchten Experten.

Donnerstags bietet der Arbeitskreis Neue Armut eine Sprechstunde für Ratsuchende an. Regelmäßig stehen 40 bis 50 Leute vor der Tür des Vereins in der Richardstraße. Die Kurz- und Krisenberatung ist dafür da, Menschen, denen die Wohnungskündigung oder der Arbeitsplatzverlust unmittelbar bevorsteht, schnell und unbürokratisch zu helfen. Arbeitslosigkeit gilt als Hauptgrund für Überschuldung. Ehe man einen regulären Termin bekommt, vergeht in Neukölln oftmals ein Jahr. „Wir können den tatsächlichen Bedarf an Beratungshilfe nicht decken“, klagt Wiedenhaupt. Achteinhalb Mitarbeiter kümmern sich um die Überschuldeten, jeder von ihnen betreut derzeit 100 Personen. Unter den Hilfesuchenden finden sich Langzeitarbeitslose, aber auch leitende Angestellte oder Einfamilienhausbesitzer aus Rudow und Buckow.

Heike Fröhlich hat eher ältere Kunden. „Viele können mit Eintritt ins Rentenalter ihre Verpflichtungen nicht mehr erfüllen“, sagt die Schuldnerberaterin des Deutschen Familienverbands in Steglitz-Zehlendorf. 2008 zählte Fröhlich 4575 Beratungsgespräche. Der Bezirk im Südwesten Berlins hat mit knapp zehn Prozent die geringste Schuldnerquote der Stadt. Doch auch hier stehen die Hilfesuchenden sechs Monate lang auf der Warteliste, ehe sie einen Termin bekommen. Mit den 330 000 Euro, die das Bezirksamt der Beratungsstelle jährlich überweist, lassen sich gerade 4,85 Stellen finanzieren.

Wie Wiedenhaupt würde sich Fröhlich wünschen, dass die Menschen die Beratungsstelle früher aufsuchten. „In den meisten Fällen ist die Überschuldung schon längst da.“ Von Verschuldung ist die Rede, wenn finanzielle Verpflichtungen vorhanden sind. Von Überschuldung spricht man, wenn das Einkommen nicht ausreicht, die Verbindlichkeiten fristgerecht zu begleichen. „Wenn die Schuldenhöhe so hoch ist, dass sie absehbar in den nächsten sechs Jahren nicht vom pfändbaren Einkommen bezahlt werden kann, rate ich meinen Kunden zur Privatinsolvenz“, sagt Fröhlich.

Das vor zehn Jahren eingeführte Verbraucherinsolvenzfahren bietet überschuldeten Privatpersonen und Selbstständigen die Möglichkeit, innerhalb von sechs Jahren schuldenfrei zu werden (siehe Kasten). 2008 entschieden sich 6000 Berliner für das Verfahren. Vorher muss sich der Schuldner allerdings von einer Schuldnerberatung oder einem Rechtsanwalt beraten lassen. Doch genau da liegt das Problem: Die 22 anerkannten Berliner Beratungsstellen sind zwar kostenlos und für jeden zugänglich, aber chronisch überlaufen. Einen Rechtsanwalt dagegen können sich die Betroffenen nicht leisten. Zwar kann beim zuständigen Amtsgericht ein Antrag auf Ausstellung eines Beratungshilfescheins gestellt werden. Beratungshilfeberechtigt sind einkommensschwache Bürger, die eine anwaltliche Rechtsberatung benötigen, so jedenfalls schreibt der Weddinger Amtsgerichtspräsident in einem Merkblatt.

„In der Praxis verweigern die Gerichte immer häufiger die Ausstellung eines Beratungshilfescheins“, sagt Marion Pietrusky, Hauptgeschäftsführerin der Anwaltskammer Berlin. „Dabei verweisen sie vornehmlich auf das kostenfreie Angebot der Schuldnerberatungsstellen.“ Pietrusky berichtet von einem Fall, in dem ein Berliner Gericht einen Antrag auf Beratungshilfe abgewiesen hatte, weil dem Schuldner eine Wartezeit von bis zu 18 Monaten zuzumuten wäre. Die Anwältin hat Zweifel, ob diese Handhabung vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand hätte. „Die Leidtragenden sind die Schuldner“, resümiert auch Claus Richter von der Landesarbeitsgemeinschaft Schuldner- und Insolvenzberatung die aktuelle Situation.

Tatsächlich bleibt vielen Schuldnern nur, sich in die Terminlisten der Beratungsstellen einzutragen und zu warten. Damit der Kampf gegen die Schulden dann zügig angegangen werden kann, sollten sich Schuldner gut auf ihren ersten Besuch beim Berater vorbereiten: Aktuelle Einkommensnachweise wie Lohnabrechnungen, Renten- oder Arbeitslosengeldbescheide sollten mitgebracht werden. Eine Auflistung der Einnahmen und Ausgaben (für Miete, Strom, Fahrtkosten) verschafft einen Überblick über die finanzielle Situation. Auch eine Gläubigerliste, in der alle Verpflichtungen eingetragen sind, ist hilfreich.

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