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Syriens Präsident Baschar al Assad lässt sich vom türkischen Präsident Abdullah Gül den Bosporus zeigen. Zusammen mit Jordanien und dem Libanon streben sie eine Nahost-Union ähnlich der Europäischen Union an.

© dpa

Neue Allianz: Türkei und Syrien: Alter Feind, neuer Freund

Das Ende der Visumspflicht zwischen der Türkei und Syrien löst einen Wirtschaftsboom aus. Den Europäern schmecken die Pläne Ankaras nicht.

Es ist noch nicht allzu lange her, da standen die Türkei und ihr südlicher Nachbar Syrien kurz vor einem Krieg. „Vor rund zehn Jahren hatten wir noch 300 000 Soldaten an der Grenze“, erinnert sich der türkische Europa-Minister Egemen Bagis. Mit militärischem Druck brachte die Türkei damals die Syrer dazu, das Asyl für PKK-Chef Abdullah Öcalan zu beenden. Auch heute wird die fast 900 Kilometer lange Grenze wieder belagert – diesmal allerdings von zehntausenden Syrern, die im Nachbarland einkaufen wollen.

Seit die beiden Länder vor einem Jahr die Visumspflicht für ihre Bürger aufgehoben haben, erleben die türkischen Städte an der Grenze einen noch nie da gewesenen Wirtschaftsboom. Exporte und Besucherzahlen explodieren. Bagis berichtet, er habe kürzlich ein Restaurant in der Stadt Gaziantep im Grenzgebiet besucht und den Besitzer gefragt, wie viele syrische Gäste er im Durchschnitt pro Tag begrüße. Etwa 200, lautete die Antwort. „Dann fragte ich ihn, wie viele es vor dem Ende des Visumszwangs waren: zehn.“

Türkische Regierungsvertreter wie Bagis erzählen solche Anekdoten gerne, denn sie wollen nicht zuletzt die Europäer davon überzeugen, die Visumspflicht für Türken aufzuheben. Der visafreie Reiseverkehr ist gut für die Wirtschaft auf beiden Seiten, lautet die Botschaft. Im Falle Syriens geht die Entwicklung sogar noch weiter. Türken und Syrer halten gemeinsame Kabinettsitzungen ab und arbeiten an einer „Nahost-Union“, die hin und wieder als mögliche Alternative zur EU genannt wird.

Für die türkische Grenzregion, eine der ärmsten Gegenden im Land, ist die Aufhebung des Visumszwangs zweifellos ein Segen gewesen. Sanliurfa, eine der größten Städte im Grenzgebiet, zählt heute bis zu 70 000 syrische Besucher in einem Monat – so viele kamen früher nicht im ganzen Jahr. Die Syrer kaufen in der Türkei Kleidung, Schuhe und Autos, aber auch Zement für die Bauindustrie daheim, wie die Handelskammer in Sanliurfa berichtet.

Syrer besuchen türkische Restaurants wie in Gaziantep, bleiben übers Wochenende in türkischen Hotels und verbringen viel Zeit in der wachsenden Zahl von Einkaufszentren auf der türkischen Seite der Grenze. Schon fordern türkische Wirtschaftsverbände die Einrichtung zusätzlicher Grenzübergangsstellen.

Noch ist die Zahl von Besuchern aus Syrien mit schätzungsweise einer Million Menschen im vergangenen Jahr vergleichsweise niedrig. Doch der Trend weist steil nach oben, auch beim Handelsaustausch, der mit etwa einer Milliarde Dollar in den ersten fünf Monaten dieses Jahres schon höher war als die Gesamtbilanz des Jahres 2007. Und es sind nicht nur die Syrer, die das Nachbarland entdecken. Während des islamischen Opferfestes vor einigen Tagen besuchten rund 100 000 Türken ihre syrischen Verwandten und Bekannten jenseits der gemeinsamen Grenze.

Wenn es nach den Regierungen in Ankara und Damaskus geht, ist das erst der Anfang. Während die Türkei bei ihrer Europa-Bewerbung auf der Stelle tritt, machen ihre Bemühungen um ein besseres Verhältnis zu ihren nahöstlichen Nachbarn große Fortschritte. Im Sommer legten die Türkei, Syrien, der Libanon und Jordanien mit einer Vereinbarung über die Bildung einer Freihandelszone den Grundstein für die mögliche „Nahost-Union“. Wirtschaftliche Integration lautet das erklärte Ziel der vier Länder, wobei die Türkei als wirtschaftlich stärkster Partner auf einen Ausbau ihrer Exportchancen hofft.

Bei westlichen Diplomaten in Ankara heißt es allerdings, die Aufhebung des Visumszwangs mit Ländern wie Syrien könne neue Probleme für die Türkei bei ihren Bemühungen um einen visafreien Reiseverkehr mit der EU aufwerfen. Ohnehin hat die türkische Nahost-Politik die Sorgen über eine mögliche Abwendung der Türkei vom Westen verstärkt.

Doch Regierungspolitiker wie Bagis lassen sich davon nicht beeindrucken. Wieso solle die Türkei auf Sorgen in der EU eingehen, wenn die EU ein klares Bekenntnis zur Mitgliedsperspektive der Türkei verweigere, fragte der Europa-Minister kürzlich. „Die Tatsache, dass wir mit der EU (über einen Beitritt) verhandeln, bedeutet nicht, dass wir unsere Beziehungen zu Syrien über Bord werfen müssen. Wir können das eine tun und das andere nicht lassen“, sagte Bagis. Einwände aus Europa spielen in Ankara derzeit jedenfalls keine große Rolle.

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