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Man wird ja wohl noch hören dürfen, was man will!

© picture alliance/dpa

„Besser wissen“: Selektives Wissenschaftsgehör

„Auf die Wissenschaft hören“ ist in der Pandemie ein beliebter Politikersatz geworden – doch wenn es ihnen nicht ins Konzept passt, stellen sich viele taub.

Eine Kolumne von Holger Wormer

Kinder und Ehepartner haben ein erstaunlich selektives Gehör – das insbesondere Aufforderungen zu unangenehmen Tätigkeiten wie Zimmer aufräumen oder Müll wegbringen zuverlässig auszublenden vermag. Auch in Zeiten der Pandemie wurde so manche unangenehme Aufforderung gerne überhört. Unter Politikern zwischen Berlin und Bayern führte dies sogar zu Ermahnungen, man solle doch mehr „auf die Wissenschaft hören“.

Doch gerade in der Politik ist das Gehör – für wissenschaftliche Fakten und Empfehlungen – oft mindestens so selektiv wie in deutschen Kinderzimmern. Warnungen der Wissenschaft vor der Klimakrise benötigten Jahrzehnte, bis sie den Weg vom Ohr in die Gehirne einer politischen Mehrheit zurückgelegt hatten.

© TU Dortmund

„Der Spiegel“ illustrierte dies im vergangenen Jahr mit dem Recycling eines Titelbilds zur „Klima-Katastrophe“ aus dem August 1986 (!), das den Kölner Dom erneut schwimmend im Ozeanwasser zeigte. Trotz aller Empfehlungen sind aber bis heute einfache kleine Gegenmaßnahmen wie ein Tempolimit auf Autobahnen nicht umgesetzt.

Dabei reicht hier sogar schon das wissenschaftliche Wissen aus der Physik-Grundvorlesung, um auszurechnen, dass es auch jenseits von Emissionsfragen keine sonderlich gute Idee ist, ein bis zwei Tonnen Metall und Kunststoffe im Straßenverkehr auf Geschwindigkeiten von 200 Kilometer pro Stunde und mehr zu beschleunigen.

Geschäftsmodell „Zweifler vom Dienst“

Ein beliebtes Gegenargument, um selbst eindeutige wissenschaftliche Empfehlungen zu ignorieren, ist der Hinweis, dass es ja nicht „die Wissenschaft“ gebe, sondern verschiedene Forschungszweige, die in der Tat zu unterschiedlichen Schlüssen gelangen können.

Oder es findet sich der eine oder andere Zweifler im professoralen Gewand, der trotz eines ansonsten wissenschaftlichen Konsenses als Kronzeuge für politischen Gegenwind dient. „Merchants of doubt“ hat die US-Wissenschaftshistorikerin Naomi Oreskes solche instrumentalisierbaren Gelehrten in ihrem gleichnamigen Buch genannt. Im Falle der Klimakrise oder der Gesundheitsschäden durch Rauchen halfen schon einige wenige dieser „Händler des Zweifels“, von der Wissenschaft empfohlene Konsequenzen um Jahrzehnte zu verzögern.

Für die Wissenschaftskommunikation wäre es eine lohnende Aufgabe, wenig fundierten Minderheitenmeinungen aus den eigenen Reihen deutlicher zu widersprechen – und viel klarer zu machen, wenn es einen weiten wissenschaftlichen Konsens quer durch die Disziplinen gibt. „Scientists for Future“ war hier ein guter Anfang.

Aber gerade zum Klimaschutz würde man sich auch von den etablierten Forschungsorganisationen im neuen Jahr wieder eine größere Lautstärke wünschen. Das wäre wirksamer als ein klebriger Klimaprotest zwischen Kunstausstellung und Autobahn.

Denn dieser, da sollte man wiederum auf die Transformations- und Akzeptanzforschung hören, wird die Realpolitik kaum verändern. Im Gegenteil: Zu leicht lassen sich so junge Protestierende mit ihren berechtigten Anliegen von der Politik einfach zurück ins vermeintliche Kinderzimmer schicken.

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