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Max Horkheimer (vorn links), Theodor W. Adorno (vorn rechts) gelten als Begründer der Frankfurter Schule.

© Bild: Jeremy J. Shapiro (CC BY-SA 3.0)

„Das Schlimme befürchten und das Beste versuchen“: Wie aktuell ist die Kritische Theorie?

Heute vor 50 Jahren starb der Begründer der Kritischen Theorie, Max Horkheimer. Wie relevant ist sein Denken heute, in Zeiten von Rechtsruck und Klimakatastrophe?

Rechts ist die neue Mitte. Wäre in Deutschland morgen Bundestagswahl, käme die AfD wohl auf rund 20 Prozent – ungefähr so viel, wie Grüne und Linkspartei zusammen. In dem Teil der bürgerlichen Öffentlichkeit, der sich von dieser Entwicklung besorgt zeigt, wird über die möglichen Gründe debattiert. Sind gegenderte Nachrichtensendungen schuld? Schlecht vermittelte Heizungsgesetze?  

Max Horkheimer, Begründer der Frankfurter Schule, der heute vor 50 Jahren verstarb, hätte angemahnt, tiefer zu blicken, erstaunt gewesen aber wäre er nicht. Pünktlich zum 50. Todestag sind mehrere Publikationen erschienen, die erklären, wie relevant sein Denken noch ist – etwa der Essay „Der junge Horkheimer“ von Arno Münster oder die Einführung „Zur Aktualität von Max Horkheimer“ von Gerhard Schweppenhäuser. Was hat uns Horkheimer heute noch zu sagen? 

Obwohl sich seine Haltung später differenzierte, ging er auch noch im Alter davon aus, dass die Widersprüche des Liberalismus dazu führen, dass sich dieser selbst kannibalisiert. Die liberale Ordnung habe in sich die Tendenz, früher oder später in Faschismus zu münden.  

Den Umschlag einer parlamentarischen Ordnung in ein autoritäres Führer-Regime hat Max Horkheimer hautnah erlebt, sein Denken kreiste fortan um dieses Geschehen. Kurz nachdem er die Leitung des in der Weimarer Republik gegründeten „Frankfurter Instituts für Sozialforschung“ übernommen hatte, musste er als Jude und Marxist ins Exil. 1933 ging es in die Schweiz, von dort aus nach New York an die Columbia University und später nach Pacific Palisades in Kalifornien.  

Sind die Gründe für den aktuellen Rechtsruck teilweise im Liberalismus selbst zu suchen?
Sind die Gründe für den aktuellen Rechtsruck teilweise im Liberalismus selbst zu suchen?

© dpa/Fabian Sommer

Er bildet einen Kreis vor allem deutsch-jüdischer Denker, der bis heute als Frankfurter Schule bekannt ist. Das, was man in der mittlerweile x-ten Generation noch immer als Kritische Theorie bezeichnet, findet im US-Exil seine Form. Max Horkheimers und Theodor Wiesengrund Adornos Rückkehr ins postfaschistische Deutschland, an die Frankfurter Uni im Jahr 1950, leitet dann schließlich nicht weniger ein, als die intellektuelle Wiedergeburt des von allen guten Geistern verlassenen Landes. 

Der Gesellschaft auf den Grund gehen

Horkheimer kommt 1895 in Stuttgart-Zuffenhausen zur Welt, als Sohn eines jüdischen Kunstwollfabrikanten. Er soll die Leitung der väterlichen Firma übernehmen, geht aber nach München, Frankfurt und Freiburg, um Philosophie, Psychologie und Nationalökonomie zu studieren. Durch Schopenhauers Mitleidsethik geprägt, ist er vom Arbeiterelend erschüttert, avanciert bald zum unorthodoxen Marxisten. Als Ordinarius für Sozialphilosophie und Direktor des Instituts für Sozialforschung hat Horkheimer große Ziele. Er will die Gesellschaft als ganze durchleuchten. Die Philosophie stellt die Fragen bereit, die empirisch arbeitenden Einzeldisziplinen sollen sie präzise beantworten helfen.

Warum, fragen Adorno und Horkheimer, bejahen Menschen die Strukturen, die sie unterdrücken?
Warum, fragen Adorno und Horkheimer, bejahen Menschen die Strukturen, die sie unterdrücken?

© IMAGO/Photo12

Durch die Forschung von Denkern wie Adorno, Leo Löwenthal oder Erich Fromm fusioniert die Kritik der politischen Ökonomie mit Kulturtheorie und Psychoanalyse. Voreilige Schlüsse des marxschen Denkens will man sozialpsychologisch korrigieren. Die entscheidende Frage, die Horkheimer umtreibt: Warum rebellieren die geknechteten Massen nicht gegen die kapitalistische Herrschaft, so wie Marx es vorausgesehen hatte, sondern geilen sich lieber an der Volksgemeinschaft auf? Und warum entstehen dort, wo sie rebellieren, aus den widerstreitenden Klasseninteressen eben keine sozialistischen Freiheitsparadiese, sondern neue bürokratische Machtapparaturen?

Die Freunde Adorno und Horkheimer erkennen: Dass das Sein automatisch das Bewusstsein bestimmt, also jenes in den Werkhallen erfahrene Elend stets klassenbewusste Proletarier erzeugt, die sich für Freiheit und Gleichheit engagieren, ist kurzschlüssig und psychologievergessen.

Der autoritäre Charakter

Selbst die in den Fabriken herrschenden Gedanken können die Gedanken der Herrschenden sein. Das autoritär-hierarchische Weltbild der liberal-bürgerlichen Klassengesellschaft ist auch vielen Knechten in den Leib eingeschrieben. Nicht selten bejubeln Menschen ihre Unterdrücker. So zeigen Adorno und Horkheimer in ihren Studien zum autoritären Charakter, wie die empfundene Machtlosigkeit im engen Korsett der „verwalteten Moderne“ durch die Bindung an Führerfiguren kompensiert wird.

Der kleine Mann freut sich, zum Volk zu gehören, er identifiziert sich mit jenen, die stark sind und nicht mit denen, die schwächer sind als er. Gegen diese aber richtet sich die aufgestaute Wut. Und anstatt die Verhältnisse verantwortlich zu machen, werden die Weltübel personifiziert, und dem ewigen Sündenbock, „dem Juden“, zugeschoben, der als Opfer „falscher Projektionen“ fungiert.

Nicht von ungefähr gelten Horkheimer und Adorno heute vielen als Ahnherren der sozialwissenschaftlichen Antisemitismusforschung. Auch die Rechtsextremismus- und Populismusforschung greift auf Erkenntnisse der beiden zurück. Horkheimer Test, um Demagogen zu erkennen, könnte auch gestern entworfen worden sein. Denn charakteristisch sei vor allem dies: Dass der Zweifel aus der Rede ausgeschlossen werde, die Masse der Superlative darin, ein „Wir“, welches gegen ein „Die“ profiliert wird, die Erklärung, der Volkstribun sei „einer von uns“, und die Warnung vor dunklen verschwörerischen Mächten. Rhetorik, die uns Heutigen bekannt vorkommen könnte. 

Dialektik der Aufklärung

In den 1940er-Jahren wird die von Horkheimer formulierte These, dass wer vom Kapitalismus nicht sprechen wolle, auch vom Faschismus schweigen solle, zu einer zunehmend pessimistisch anmutenden Zivilisationskritik erweitert. In Pacific Palisades formuliert er unter der kalifornischen Sonne zusammen mit Adorno die wohl düsterste Zivilisationsdiagnose des okzidentalen Denkens: Die „Dialektik der Aufklärung“ will zeigen, dass die nach Auschwitz rollenden Züge keinen Bruch mit der aufgeklärten Zivilisation, sondern ihre logische Folge bedeuten.

Der Totalitarismus sei tief in den Code der auf Beherrschung von innerer und äußerer Natur angelegten Aufklärung einprogrammiert. Die Aufklärung will mythische Weltbilder ablösen, doch schlage in Form eines naiven Szientismus letztlich selbst „in einen Mythos zurück“. Zugleich bedingt die „Entzauberung der Welt“ auch die Sehnsucht nach genuin mythischem Denken, die Rationalität gebiert als ihren Gegensatz romantisch-verschwörungsideologisches Geschwurbel. 

Instrumentelle Vernunft

1947, im gleichen Jahr wie die „Dialektik der Aufklärung“ erscheint auch Horkheimers Werk „Zur Kritik der instrumentellen Vernunft“, das in ähnlicher Weise argumentiert. Die Aufklärung als kalte Rationalität habe sich von ihrem Anspruch gelöst, das Individuum von seinen Fesseln zu befreien. Menschen und Natur werden berechenbar gemacht, vermessen, verwaltet, verwertet, vernutzt. Der Einzelne sei zum Funktionsträger verkommen, passe sich den Apparaturen an, mit denen er zu arbeiten angehalten sei. Die technisierte Welt ist für Horkheimer ein Alptraum, „das Erlöschen von Geist, soweit er vom Verstand als Werkzeug sich unterschied.“ Dabei ist er Dialektiker genug, um auch die positiven Seiten der Technik zu erkennen, was ihn von rechten Antimodernisten wie Martin Heidegger deutlich unterscheidet. 

Zwar hat Horkheimer die jüngste Entwicklungsstufe des Kapitalismus, die in den 1980er Jahren anhebende neoliberale Deregulierungsära, nicht mehr mitbekommen. Die Spätmoderne, die von allen fordert, einzigartig und herausragend zu sein, lässt manche Horkheimer-Diagnose alt aussehen.  

Wir müssen theoretische Pessimisten und praktische Optimisten sein.

Max Horkheimer, Sozialphilosoph

Doch dass „das, was einmal Kultur hieß, von der Technik ausgelöscht werden könnte“, wie er einmal pointiert formuliert hat, ist im Zeitalter von Chat-GPT durchaus denkbar. Und dass Menschen in einem von Tech-Konzernen dominierten „digitalen Überwachungskapitalismus“ (Shoshana Zuboff) als eifrige Datenproduzenten und willfährige Lieferanten ihrer urpersönlichen Geheimnisse mehr denn je zum bloßen „Anhängsel der Maschine“ verkommen, fügt sich in sein Bild von der „verwalteten Welt“.     

Kritik ja, Gewalt nein

Vor dieser hat er in seiner letzten Lebens- und Werkphase am meisten gewarnt, auch wenn er kaum noch geschrieben hat, sondern in Frankfurt mehr als Institutsleiter und Rektor der Universität praktizierte. Zurück in Deutschland werden Horkheimer und Adorno wider Willen zu den Stichwortgebern der linksradikalen Studentenbewegung. Anders als Herbert Marcuse etwa wehrt sich Horkheimer entschieden dagegen, dass seine Worte zu Schlagworten verkommen. Er will die Theorie nicht in die Praxis übersetzten.

Wer vom Kapitalismus nicht reden will, soll auch vom Faschismus schweigen. Die Studentenszene nimmt Horkheimer beim Wort.
Wer vom Kapitalismus nicht reden will, soll auch vom Faschismus schweigen. Die Studentenszene nimmt Horkheimer beim Wort.

© IMAGO/Klaus Rose

Seine Kritik könne bloß eruieren, was in der Gesellschaft schlecht laufen würde, sie müsse sich aber entschieden davor hüten, die Endform einer guten Gesellschaft zu benennen. Am Reißbrett entworfene utopische Gebilde haben doch stets nur Katastrophen befördert. Eine Revolution gegen die Nazidiktatur hätte unbedingt stattfinden müssen – eine gegen die Bundesrepublik würde Schlimmeres hervorbringen als den Status Quo. So meint der späte Horkheimer zwar immer noch, dass die vom Liberalismus erzeugten sozioökonomischen Probleme und affektiven Spannungen faschistischen Bewegungen Vorschub leisten können. Doch vieles an der liberalen Demokratie gelte es unbedingt zu bewahren. 

Der militante Teil der Studentenbewegung, der ihre Werke schon als Raubdrucke las, bevor sie in Deutschland veröffentlicht waren, nimmt von Adorno und Horkheimer Abschied. Letzterer hat sich vom Marxismus distanziert und nähert sich gedanklich wieder Schopenhauer an. Den Protest gegen die „Ordinarienuniversität“, in dessen Verlauf die Kinder der Täter dem jüdischen Theodor „Teddy“ Adorno verächtlich einen kleinen Teddybären überreichen, erlebt der bereits emeritierte Horkheimer nur noch aus der Ferne.

Seine letzten Jahre verlebt er im Tessin. Am 7. 7. 1973 stirbt er in Nürnberg. Sein melancholischer Satz aus einem Interview von 1969, der den Pessimismus Arthur Schopenhauers und den Optimismus Ernst Blochs kombiniert, könnte unserer von Klimawandel und Rechtsruck bedrohten Gegenwart als Leitspruch dienen. „Wir müssen theoretische Pessimisten und praktische Optimisten sein. Wir müssen das Schlimme befürchten und doch unser Bestes versuchen.“ 

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