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Ausschlaggebend. Die Schlacht von Navarino am 20. Oktober 1827 vor der Südwestküste des Peloponnes war das entscheidende Ereignis, mit dem Griechenland nach jahrelangem Aufstand seine Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich erlangte. Foto: National Museum Athen

© Alamy Stock Photo

Griechischer Unabhängigkeitskrieg: „Dieser Krieg lehrt, historisch zu denken“

Richard Schuberth über den Griechischen Unabhängigkeitskrieg und die Verheißung des Nationalismus.

Alljährlich feiern die Griechen den Beginn des Befreiungskriegs, dieses Jahr steht im Zeichen des 200. Gedenkjahrs. Der Schriftsteller Richard Schuberth hat eine umfangreiche Studie zur „Geschichte des Griechischen Unabhängigkeitskrieges“ veröffentlicht. Griechenland habe nicht unbedingt Grund, diesen Nationalfeiertag allein stolz zu begehen, meint der Autor. Etwas Demut täte gut. In seinem Buch nimmt er Medienpropaganda, Orientalismus und Nationalismus in den Blick.

Herr Schuberth, warum meinen Sie, dass Griechenland nicht unbedingt stolz sein sollte auf das Datum des 25. März 1821, das als Beginn des Unabhängigkeitskriegs bezeichnet wird?

Stolz könnte es erst dann sein, wenn es diesen Krieg schonungslos aufarbeitete und falsche und verzerrte Darstellungen sowie jeglichen Nationalismus zurückwiese. Im Grunde fühlen sich viele Griechen noch immer als Romioi – Oströmer – und nicht als Éllines. Um 1820 war aber auch ein orthodoxer Albaner, Slawe und Aromune ein Romios, nicht aber ein katholischer Grieche.

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Sie sagen in der Schlussbemerkung, dass Ihr Buch „nicht als Abrechnung mit dem Staat Griechenland gedacht“ sei. Welche Zielrichtung verfolgen Sie?

Ich habe mich – vor allem zur Zeit der beispiellosen Demütigung der Griechen durch die EU-deutsche Austeritätspolitik – publizistisch immer gegen den medialen antigriechischen Rassismus gestellt, also auf die Seite der griechischen Bevölkerung. Mit meinem Buch geht es mir unter anderem darum, anhand des Unabhängigkeitskrieges ein Beispiel zu geben dafür, Widersprüche und Inkohärenz auszuhalten. Es geht mir nicht darum, moralische Urteile zu fällen. Ich möchte vielmehr die Erkenntnis befördern, dass die Menschen von 1820 im Westen wie im Osten völlig andere Identitäten besaßen als ihre Nachkommen, und völlig andere Interessen vertraten. Niemand hätte damals das Konzept einer ethnischen Nation verstanden.

Was gab den Anlass zum Aufstand im März 1821?

Eine kleine Führungsschicht wollte dem Sultan ein Staatsgebiet nach republikanischem Muster abtrotzen, die Mehrheit nach zaristischem Muster. Die Kleften als Warlords wollten selbst Paschas sein. Die christlichen Großgrundbesitzer, Äbte und Notabeln wollten ihre Privilegien erhalten. Und die bettelarmen Bauern sich die Krümel einstreichen, die von den Plünderungen der Kleften übrigblieben.

Richard Schuberth (53) ist Schriftsteller, Satiriker, Kulturwissenschaftler und Cartoonist. Er schrieb über Karl Kraus, Narzissmustheorie, Aphorismen, Theaterstücke, Essays und Romane.
Richard Schuberth (53) ist Schriftsteller, Satiriker, Kulturwissenschaftler und Cartoonist. Er schrieb über Karl Kraus, Narzissmustheorie, Aphorismen, Theaterstücke, Essays und Romane.

© Helmut Lackinger

Sie beschreiben den Griechische Unabhängigkeitskrieg als heilloses Durcheinander und wildes Gemetzel. Also reine Apokalypse, jeder gegen jeden?

Auch. Gleichzeitig bündelten sich darin aber große Taten, edle Ideen und heute unvorstellbare idealistische Energie. Einer kleinen Schar gebildeter Republikaner gelang es, eine der fortschrittlichsten Verfassungen ihrer Zeit aufzusetzen. Dieser Aufstand musste aber zu einem Durcheinander und Gemetzel führen, denn die Interessen waren zu unterschiedlich und die gemeinsame Sache erschien zu vage. Von Anfang bis zum Schluss war die „Epanastasis tou Ikosiena“, also der Aufstand von 1821, eine Abfolge von Mikrobürgerkriegen mit wechselnden Allianzen.

Ihre Studie ist die erste deutschsprachige Monografie zum Aufstand von 1821. Wie kann man in dieser verwickelten Geschichte die Übersicht behalten?

Dieser Krieg ist ein wunderbares historisches Schulschiff. Es lehrt uns, historisch zu denken. Das heißt: Kategorien, die uns heute selbstverständlich sind – zum Beispiel Völker wie Türken, Griechen, Bulgaren – nicht einfach in die Vergangenheit zu projizieren. Das kann uns dabei helfen, vereinfachende und pauschalisierende Vorstellungen hinter uns zu lassen.

Für welche Ideen wurde dort gekämpft?

An der Seite der Griechen kämpften Bonapartisten und Anti-Bonapartisten, Republikaner und Monarchisten, Aufklärer und Gegen-Aufklärer, und die meisten gingen wegen ihrer Liebe zum antiken Hellas nach Griechenland, ein Bezug, der bei der griechischen Bevölkerung zumeist verpönt war. Hinzu kommen völlig unterschiedliche Absichten und Vorstellungen der Aufständischen selbst. Es gab globalisiertes Banditentum. Das reichte von den britischen Philhellenen, die sich von einem Griechenland-Kredit fette Provisionen einstrichen, bis zu den räuberischen Warlords vor Ort.

Gab es am Ende Kriegsgewinner?

Es bildeten sich Oligarchien heraus, zum Teil aus im Krieg reich gewordenen Warlords, zu einem geringeren Teil aus der alten Schicht der Großgrundbesitzer, zum Teil aus völlig neuen Akteuren, wie griechischen und bayerischen Beamten. Die Unabhängigkeit führte zunächst eher zu einer Refeudalisierung denn zu einer Demokratisierung der griechischen Gesellschaft.

Richard Schuberth: Lord Byrons letzte Fahrt. Eine Geschichte des Griechischen Unabhängigkeitskrieges. Wallstein Verlag, Göttingen 2021. 533 Seiten, 29,90 Euro.
Richard Schuberth: Lord Byrons letzte Fahrt. Eine Geschichte des Griechischen Unabhängigkeitskrieges. Wallstein Verlag, Göttingen 2021. 533 Seiten, 29,90 Euro.

© Promo

Wer waren die eigentlichen Leidtragenden in diesem Blutbad mit wechselnden Fronten?

Immer und überall die Zivilisten, im griechischen Fall waren das die Bauern. Es muss hier klipp und klar festgehalten werden, dass der große Freiheitsheld Kolokotronis 1806 nicht wegen seines patriotischen Widerstandes durch die osmanischen Behörden von der Peloponnes verjagt wurde. Es war vielmehr so, dass die christlichen Dorfbewohner permanent darum baten, von diesem Banditen befreit zu werden. Der Aufstand brachte nicht enden wollende Heuschreckenplagen aus allen Richtungen: osmanisch-albanische Armeen, die Ägypter, aber auch die unentwegt plündernden Kleftenkompanien der Befreiungsarmee. Die Lage der Bauern verschlechterte sich objektiv durch die Unabhängigkeit. Nicht wenige wanderten ins osmanische Thessalien aus.

Und heute wird dieses Blutbad in Griechenland nun als nationalistische Besinnung gefeiert. Warum?

Weil der Nationalismus ein höchst verlockendes Instantmärchen von Gemeinschaft und historischer Verwurzelung verkauft. Nationalismus appelliert nicht an den denkenden, mündigen Erwachsenen, sondern ans ängstliche, emotionale und narzisstische Kind im Menschen. Nationalismus harmonisiert soziale Spaltungen durch die Behauptung einer imaginären Mitte und stabiler Gegner und Feinde.

Welche Auswege sehen Sie?

Hilfreich wäre die Aufarbeitung aktueller nationaler Identitäten; darüber aufzuklären, dass Menschen vorrangig durch soziale Interessen miteinander verbunden sind – und zwar quer zu Staats- und Nationalgrenzen. Ob nun in Griechenland oder sonst wo.

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