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Archivbild eines Briefwechsels zwischen Theodor Fontane und Georg Friedlaender sowie Fontante und Fritz Mauthner.

© picture alliance / dpa/THEODOR-FONTANE-ARCHIV

„Eine sehr intime, zarte Dimension“: Berliner Forschende widmen sich Freundschaftsbriefen

Wer schreibt im digitalen Zeitalter noch Karten oder gar Briefe an entfernt lebende Freunde? Berliner Kulturforschende fragen nach der Bedeutung eines vergessenen Genres.

Wie viel Tiefe und Intimität per Brief übermittelt werden kann, zeigt ein Blick ins vergangene Jahrhundert. Als es noch keine Chat-Nachrichten und Instagram-Stories gab, war der Freundschaftsbrief eine wichtige und besonders intime Form des Austauschs.

Grund genug für das Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (ZFL) und das Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur Simon Dubnow (DI), sich einen Tag Zeit zu nehmen, um gemeinsam über „Freundschaftsbriefe im 20. Jahrhundert“ nachzudenken.

Falko Schmieder vom ZFL organisiert die Workshopreihe der beiden Häuser seit 2017 ein Mal pro Jahr mit seinem Kollegen Nicolas Berg vom DI. Immer geht es um übergeordnete Themen, die an der Schnittstelle von Theorie- und Literaturgeschichte zu verorten sind. Die Forschenden stellen dabei keine abgeschlossenen Projekte vor, sondern präsentieren einander ihr Material und diskutieren zusammen offene Fragen.

Wir fragen uns, was es heißt, dass kaum noch Freundschaftsbriefe geschrieben werden. Geht etwas mit den neuen Formen des Austauschs verloren?

Falko Schmieder, Kulturwissenschafter am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung

Dass sich aktuell beide Institute unabhängig voneinander mit Freundschaftsbriefen auseinandersetzen, zeige, wie wichtig das Genre einmal gewesen sei, so Schmieder. „Wir fragen uns, was es heißt, dass kaum noch Freundschaftsbriefe geschrieben werden. Geht etwas mit den neuen medialen Formen des Austauschs verloren?“, fragt Schmieder.

Das Bedürfnis nach Austausch sei ja nicht kleiner geworden, sondern habe sich nur verlagert – und vielleicht auch im Zuge der Medienwechsel verändert. Diese Fragen haben Schmieder, seine Kolleginnen und Kollegen bei ihren Arbeiten zwar im Hinterkopf, im Vordergrund steht aber die Auseinandersetzung mit historischen Texten.

Intim und politisch

Der ebenfalls am ZFL tätige Kulturwissenschaftler Christoph Hesse etwa beschäftigt sich mit dem Briefwechsel zwischen Hermann Borchardt und George Grosz. In den 1930er Jahren unterhielten der Schriftsteller Borchardt und der Künstler Grosz im Exil eine Brieffreundschaft, bis Borchardt aus der Sowjetunion ausgewiesen und von den Nationalsozialisten ins Konzentrationslager deportiert wurde. Borchardt wurde 1937 entlassen und erhielt dank Grosz ein Visum für die USA.

Das sind „wahnsinnig interessante, tiefgründige Briefe, in denen historische Umbrüche genauso wie das persönliche, intime Erleben sichtbar werden“, sagt Schmieder.

Neben dem Briefwechsel von Borchardt und Grosz versammelt der Tag weitere Korrespondenzen, in denen Exilerfahrungen verarbeitet werden, in denen Wissenschaftler zwischen Fachgespräch und Freundschaft mäandern und in denen immer wieder historische Umbrüche verhandelt werden.

Freundschaftsbriefe habe eine sehr intime, zarte Dimension. Verfasser und Leser vertrauen sich im Wechsel persönliche Dinge an, machen sich verletzlich, öffnen sich einander.

Falko Schmieder, Kulturwissenschafter am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung

Es ist dieses Vielschichtigkeit, die das Genre für Schmieder so interessant macht. „Freundschaftsbriefe haben eine sehr intime, zarte Dimension. Verfasser und Leser vertrauen sich im Wechsel persönliche Dinge an, machen sich verletzlich und öffnen sich einander über die räumliche und zeitliche Distanz, die zwischen dem Schreiben und Lesen liegt“, charakterisiert Schmieder den Freundschaftsbrief.

Wann er selbst das letzte Mal einen Freundschaftsbrief geschrieben habe? Das ist „wahnsinnig lange her, wahnsinnig lange her“, wiederholt sich Schmieder, während er nachdenkt. „Zu Nachwendezeiten habe ich mich mit einem Freund, den ich während meiner Berufsausbildung kennengelernt habe, in langen Briefen darüber ausgetauscht, was dieser Bruch für uns bedeutete, politisch und persönlich. Wir hatten beide als Berufsanfänger unsere Stellen verloren und mussten uns völlig neu orientieren“, erinnert sich Schmieder. Bis 1991 schrieben sie einander, dann verlor sich der Kontakt. Bis heute ist es Schmieders letzter Freundschaftsbrief.

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