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Die Illustration des „U.S. Centers for Disease Control and Prevention“ zeigt ein Poliovirus-Partikel.

© CDC/AP/dpa

Gefahr einer lähmenden Krankheit: Warum Polio wieder auflebt

Polio gilt als nahezu ausgerottet. Doch plötzlich werden in verschiedenen Ländern Ausbrüche nachgewiesen. Der Staat New York hat gar den Katastrophenfall ausgerufen. Wie kann das sein?

Von Annett Stein, dpa

Polioviren wurden in den vergangenen Monaten in den USA, in Großbritannien und in Israel nachgewiesen – betroffen sein könnten aber noch weitaus mehr Länder. „Auftreten kann Polio letztlich überall“, sagt Sabine Diedrich vom Robert Koch-Institut (RKI) in Berlin. „Man findet nur das, wonach man sucht.“ In den USA wurden die Behörden aufmerksam, nachdem ein junger Mann im an New York grenzenden Bezirk Rockland an Polio erkrankte – es war der erste Fall von Kinderlähmung in den USA seit fast einem Jahrzehnt.

Weitere Nachweise von Polioviren im Abwasser haben den US-Bundesstaat New York in Alarmbereitschaft versetzt. Gouverneurin Kathy Hochul rief am Freitag den bundesstaatsweiten Katastrophenfall aus. Nach den Countys Rockland, Orange und Sullivan sowie New York City wurden jüngst im Nassau County Polioviren im Abwasser gefunden. Mit dem Katastrophenfall wurde als Sofortmaßnahme zum Beispiel das Netzwerk der Anbieter ausgeweitet, die eine Polio-Impfung verabreichen dürfen – auf Noteinsatzkräfte, Hebammen und Pharmazeuten.

Der US-Gesundheitsbehörde CDC zufolge könnte der Erreger bereits seit bis zu einem Jahr unbemerkt in der Region zirkuliert haben. „Wenn man einen Polio-Erkrankten mit Lähmungen hat, weiß man direkt, dass es ein größeres Problem gibt“, erklärt Polio-Expertin Diedrich. Denn nur in etwa einem von 200 Fällen führe eine Infektion zu den für Polio typischen irreversiblen Lähmungen – und das zudem nur bei Ungeimpften. Ein solcher Fall kann daher hunderte Infizierte ohne Symptome in der Region bedeuten.

Eine Therapie gibt es bisher nicht.

Sabine Diedrich vom RKI

Das Poliovirus ist ein sogenanntes Enterovirus, das in erster Linie den Verdauungstrakt infiziert. Ein Ungeimpfter entwickelt in etwa einem Viertel der Fälle eine grippeähnliche Erkrankung. Bei ein bis fünf von hundert Infizierten entwickelt sich eine Meningitis, noch viel seltener wird das Rückenmark infiziert und es kommt zu Lähmungen, die in Einzelfällen auch die Atemmuskulatur betreffen und tödlich enden. Vor Einführung von Schutzimpfungen gab es allein in Deutschland Tausende Erkrankte und Hunderte Todesfälle jährlich.

Polio wird auch Kinderlähmung genannt, weil der Erreger einst so verbreitet war, dass der Kontakt damit meist schon im Kindesalter erfolgte. Vor allem Kleinkinder waren von den poliotypischen Lähmungen betroffen. „Das sind meist bleibende Schäden fürs ganze Leben“, erklärt Diedrich. Betroffen seien einzelne Gliedmaßen, mitunter auch beide Arme und Beine. „Eine Therapie gibt es bisher nicht.“ Neben den akuten Lähmungen könne es Jahrzehnte nach einer Infektion zum Post-Polio-Syndrom kommen, das ebenfalls mit Lähmungen einhergeht. „Allein in Deutschland leben noch Tausende Betroffene, die sich vor Einführung der Impfungen angesteckt haben.“ Oft bedeute das Syndrom ein Leben im Rollstuhl.

Durch die 1988 initiierten weltweiten Impfkampagnen konnten bis heute rund 20 Millionen Menschen vor einer Lähmung und anderthalb Millionen vor dem Tod bewahrt werden, wie es bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) heißt. Inzwischen allerdings liegen die Impfquoten vielerorts viel zu niedrig. Der Chef der Gesundheitsbehörde New Yorks, Ashwin Vasan, rief kürzlich eindringlich zum Impfen auf: „Das Risiko für die New Yorker ist real, aber der Schutz ist so einfach – lassen Sie sich gegen Polio impfen.“

Aktuelle Fälle nur „die Spitze des Eisbergs“

In der Metropole seien 14 Prozent der Kinder im Alter zwischen sechs Monaten und fünf Jahren nicht oder nicht vollständig gegen Polio geimpft. Nach dem Ausrufen des Notstands appellierte auch New Yorks Gesundheitsbeauftragte Mary Bassett an Eltern, Kinder schnell zu impfen: „Wenn Ihr Kind nicht geimpft ist oder der Impfstatus nicht auf Stand ist, dann ist das Risiko einer lähmenden Erkrankung real.“

Auch in London gab es den dringenden Rat, sich impfen zu lassen. Die Impfquote liege dort in einigen der betroffenen Stadtteile bei nur etwa 50 Prozent, sagt Diedrich. „Dieses Virus ist sehr, sehr gut darin, ungeimpfte Personen zu finden“, warnte der Epidemiologe Walter Orenstein von der Emory University in Atlanta kürzlich im Fachjournal „Nature“. Die aktuell bekannten Fälle sind seiner Meinung nach nur „die Spitze des Eisbergs“.

In London wurden die Gesundheitsbehörden im Juni aufmerksam, als wiederholt Polioviren in Abwasserproben gefunden wurden. In Israel war der Erreger Anfang März zunächst bei einem erkrankten vierjährigen Kind in Jerusalem nachgewiesen worden. Anschließend wurden weitere Fälle und im Abwasser mehrerer Städte des Landes Polioviren gefunden.

Ein Kind wird in Jerusalem mit einer Schluckimpfung gegen Polio geimpft.
Ein Kind wird in Jerusalem mit einer Schluckimpfung gegen Polio geimpft.

© ZUMA Wire/Imago

Wie kann das sein, obwohl Polio seit Jahren als nahezu ausgerottet gilt? Bei den in den drei Ländern nachgewiesenen Erregern handelt es sich nicht um den Wildtyp des Polio-Virus, sondern um Viren, die auf die Schluckimpfung mit abgeschwächten, aber lebenden Polioerregern zurückgehen. Sie können vom Geimpften bis zu sechs Wochen lang ausgeschieden werden, anfangs ist auch eine Ansteckung über Speichel und Rachensekrete möglich, wie Diedrich erklärt.

Sowohl der Impfling selbst als auch Kontaktpersonen können – in sehr seltenen Fällen – an sogenannter Impf-Polio erkranken, dessen Symptome von Polio durch Wildviren nicht zu unterscheiden sind. Eine fortlaufende Vermehrung der Impfviren birgt das Risiko, dass der abgeschwächte Erreger sich verändert und das Nervensystem zu infizieren vermag – mit den poliotypischen Lähmungen als mögliche Folge.

Verbreitung über Schmierinfektionen und verunreinigtes Wasser

Verbreitet wird das hochansteckende Virus meist über kontaminierte Hände als sogenannte Schmierinfektion, in Ländern mit unzureichendem Hygienestandard auch über verunreinigtes Wasser, wie Diedrich sagt. An Oberflächen wie einer Türklinke halte es sich nicht lange, auch das könne bei mangelnder Handhygiene aber vereinzelt ein Ansteckungsweg sein, etwa wenn eine öffentliche Toilette direkt zuvor von einem Infizierten besucht wurde.

Es braucht einen Plan und den politischen Willen, um auch Kinder in Regionen wie Kriegsgebieten impfen zu können.

Oliver Rosenbauer von der Global Polio Eradication Initiative der WHO

Israel nutzt seit Jahren wieder als Schluckimpfung verabreichte Lebendimpfstoffe (OPV), die USA und Großbritannien aber nicht. Dort sind seit längerem – wie auch in Deutschland seit 1998 ausschließlich – inaktivierte Impfstoffe (IPV) im Einsatz, die keine lebensfähigen Viren enthalten und gespritzt werden. Die in London und New York kursierenden Erreger wurden wahrscheinlich zunächst von Menschen eingeschleppt, die in ihrem Land die noch weit verbreitete Schluckimpfung erhalten hatten.

Doch wenn es eine ungefährliche Alternative gibt, warum ist die Schluckimpfung dann überhaupt noch im Einsatz? Ursache ist vor allem eine Eigenheit der inaktivierten Polio-Impfstoffe: Sie verhindern zwar Erkrankungen sehr gut, nicht aber eine Infektion und die Weitergabe des Erregers. In der Folge kann das Virus unbemerkt weite Kreise ziehen. Gerade in Ländern mit niedriger Impfquote kann das gefährlich werden.

In Afrika und Asien wird nach wie vor auf die Schluckimpfung im Kampf gegen Polio gesetzt.
In Afrika und Asien wird nach wie vor auf die Schluckimpfung im Kampf gegen Polio gesetzt.

© Sunday Alamba/AP/dpa

Vor allem in Afrika und Asien wird darum noch verbreitet auf die Schluckimpfung gesetzt, die auch vor Ansteckung und damit vor einer großflächigen Weitergabe schützt. Sie ist zudem preiswerter als der inaktivierte Impfstoff und schützt nicht allein die geimpfte Person wie beim IPV-Impfstoff, sondern kann auf weitere Personen im Umfeld übertragen werden – wodurch diese quasi mitgeimpft werden. Das sehr geringe Risiko eines Impfpolio-Falls wird in Kauf genommen zugunsten einer großflächigen Immunisierung der Bevölkerung.

Routine-Impfung während Corona-Pandemie unterbrochen

Das Ziel, nach der Ausrottung der Pocken 1980 auch Polio Geschichte werden zu lassen, wurde bislang verfehlt. Bis vor kurzem zirkulierten Poliowildviren zwar praktisch nur noch in Pakistan und Afghanistan, mit jeweils wenigen Fällen. In diesem Jahr allerdings wurden erstmals seit 2016 wieder Nachweise in Ländern Afrikas gemeldet – das erst 2020 als polio-frei deklariert worden war.

95
Prozent müsste die weltweite Impfquote sein, um Polio auszurotten

Routine-Impfungen wie die gegen Polio seien in den Pandemie-Jahren in vielen Ländern unterbrochen worden, hatte WHO-Experte Oliver Rosenbauer kürzlich erklärt. „In einigen Regionen sind Kinder nun einem höheren Risiko durch Infektionen wie Polio ausgesetzt“, sagte er. „Dadurch steigt auch das Risiko, dass Polio sich international wieder ausbreitet.“

In Deutschland werden Babys ab zwei Monaten geimpft, die Impfquote liegt RKI-Expertin Diedrich zufolge im bundesweiten Mittel bei rund 90 Prozent. „Das reicht nicht“, betont sie. Besonders niedrig sei die Quote etwa in Bayern und Baden-Württemberg. Ein Problem hierzulande sei, dass aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden ist, was für furchtbare Folgen Polio für unzählige Kinder hatte – und wieder haben könnte. „Das darf auf keinen Fall auf die leichte Schulter genommen werden.“

Zwar gebe es inzwischen einen neuen Lebendimpfstoff mit einem Virus, das sich weniger gut vermehren könne und nicht so lange ausgeschieden werde, sagt Diedrich. Doch der Schlüssel für ein Polio-Aus bleibe die Ausrottung des Wildvirus. Sie sei nur mit weltweiten Impfquoten von rund 95 Prozent zu erreichen. „Dann hätte das Virus keine Chance mehr.“ Derzeit lägen die Quoten oft bei unter 80 Prozent.

Von den aktuellen Ausbrüchen sind Experten keineswegs überrascht. So gering die Aufmerksamkeit dafür in wohlhabenderen Ländern auch war: „In den letzten 20 Jahren gab es weltweit viele, viele schwere Ausbrüche in Entwicklungsländern“, betont Oliver Rosenbauer von der Global Polio Eradication Initiative der WHO im Fachjournal „Nature“. Es brauche einen Plan und den politischen Willen, um auch Kinder in Regionen wie Kriegsgebieten impfen zu können. Andernfalls „wird die Krankheit weltweit zurückkehren“.

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