zum Hauptinhalt
Thomas Mann löste mit seiner Rede Tumulte unter den Gästen aus.

© picture-alliance/brandstaetter images/Schostal Archiv

Heute vor 93 Jahren: Ein Plädoyer für die Vernunft

Ein alarmierendes Wahlergebnis motivierte Thomas Mann 1930 dazu, die Deutschen zum Erhalt der Demokratie aufzurufen. Er scheiterte – aber gab nicht auf.

Eine Kolumne von Lili Wolf

Der Erste Weltkrieg war gerade elf Jahre lang vorbei, als die Stabilität der „Goldenen Zwanziger“ ein schnelles Ende nahm. 1929 crashte in New York die Börse und stürzte die Welt in eine Wirtschaftskrise. Schon ein Jahr später waren in der Weimarer Republik mehr als drei Millionen Menschen arbeitslos und ihre Zahl stieg immer weiter.

Die Unzufriedenheit mit der Regierung wuchs, das spiegelte sich in den Wahlergebnissen der Reichstagswahlen wider: 1928 stimmten noch 2,6 Prozent der Wählenden für die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP), im September 1930 waren es schon 18,3 Prozent. Damit war die NSDAP die zweitstärkste Kraft im Reichstag, weniger als drei Jahre später wurde Hitler Reichskanzler. Die parlamentarische Demokratie der Weimarer Republik war ihren Gegnern nicht mehr lange gewachsen.

Im Oktober 1930 sollte der Schriftsteller Thomas Mann in Berlin eigentlich ein Kapitel seines neuen Romans vortragen, entschied sich aber dagegen. Es waren moralische Gründe, die ihn dazu brachten, stattdessen am 17. Oktober 1930, heute vor 97 Jahren, in der „Deutschen Ansprache - Ein Appell an die Vernunft“ gegen den aufkommenden politischen Extremismus zu plädieren. Nach einer politischen Analyse fragte er, ob der Fanatismus und damit die „Verleugnung der Vernunft“ wirklich „deutsch“ seien und sprach sich für die Sozialdemokratie aus. Seine Worte lösten Tumulte durch anwesende SA-Männer aus. Es war schon die zweite politische Äußerung des Schriftstellers, und es sollte nicht die letzte sein.

Mann verließ seine Heimat 1933, kurz vor Hitlers Machtübernahme. Aus dem Exil in den USA hielt er ab 1940 monatliche Ansprachen im Radiosender der BBC unter dem Titel „Deutsche Hörer!“: In insgesamt 60 Reden kommentierte er den Kriegsverlauf und die Verbrechen des NS-Regimes, sprach die Deutschen direkt darauf an und fragte: „Wisst ihr das? Und wie findet ihr es?“ So appellierte er bis 1945 weiter an die Vernunft seiner Hörer:innen.

Lesen Sie alle bisher erschienenen Folgen der „Tagesrückspiegel“-Kolumne hier.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false