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Online versendete Hassbotschaften könnten Vorboten von Gewalttaten sein.

© imago images / Ralph Peters

Hitziges Online-Klima: Extreme Temperaturen schüren Hassrede im Netz

Bei Kälte oder Hitze twittern mehr Menschen mit Hass. In den USA verschickte Tweets weisen auf eine Grenze der menschlichen Hitzeverträglichkeit.

Aggressives Online-Verhalten nimmt bei Temperaturen zu, die über oder unter einem Wohlfühlbereich von zwölf bis 21 Grad Celsius liegen. Das belegt eine neue Analyse von mehr als vier Milliarden Tweets, die auf der Social-Media-Plattform Twitter versendet wurden.

Das Forschungsteam vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung berichtet im Fachjournal „The Lancet Planetary Health“, dass Hassrede in allen Klimazonen und Glaubenssystemen und über alle Einkommensgruppen hinweg zunimmt, wenn es zu heiß oder zu kalt ist. Dies deute auf engere psychologische Grenzen der menschlichen Anpassungsfähigkeit an hohe oder niedrige Temperaturen hin, als sie physiologisch gegeben sind.

Der Klimawandel könnte demnach Konflikte in der digitalen Welt verstärken und dadurch gesellschaftliche Zusammenhalte schwächen und auch die psychische Gesundheit von Menschen gefährden.

75 Millionen Hass-Tweets

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben mehr als vier Milliarden Tweets untersucht, die zwischen 2014 und 2020 in den USA auf Twitter gepostet wurden, und die Zeitpunkte ihres Erscheinens mit Wetterdaten kombiniert. Auf Basis maschinellen Lernens identifizierten sie anhand der UN-Definition von Hassrede etwa 75 Millionen Hass-Tweets in dem Datensatz.

Ausschlaggebend war die Verwendung diskriminierender Sprache mit Bezug auf eine Person oder eine Gruppe aufgrund ihrer Religion, ethnischen Zugehörigkeit, Nationalität, ihres Geschlechts oder weiterer Identitätsfaktoren.

„Wir haben eine ähnliche Analyse für verschiedene Länder in Europa, einschließlich Deutschlands, durchgeführt und da ganz ähnliche Ergebnisse gefunden“, sagte Studienleiterin Leonie Wenz dem Tagesspiegel. Am wenigsten rassistische und ausländerfeindliche Tweets würden an Tagen mit angenehmen, moderaten Temperaturen versendet. „Außerhalb dieses Wohlfühlbereichs gibt es eine starke Zunahme an rassistischen Tweets“, sagt Wenz.

Verträglichkeitsoptimum in einem engen Temperaturbereich

Die aktuelle Analyse zeigt, wie sich die Anzahl der Hass-Tweets ändert, wenn die lokalen Temperaturen zu- oder abnehmen. Außerhalb einer Klimakomfortzone nehmen die Zahl und auch der Anteil der Hass-Tweets an allen Nachrichten zu. „Menschen neigen zu aggressiverem Online-Verhalten, wenn es draußen entweder zu kalt oder zu heiß ist“, wird die Erstautorin der Studie Annika Stechemesser in einer PIK-Mitteilung zitiert.

In den USA nahm der Online-Hass bei Temperaturen unter zwölf Grad Celsius um bis zu 12 Prozent und bei Temperaturen über 21 Grad Celsius um bis zu 22 Prozent zu. Innerhalb des Wohlfühlfensters von zwölf bis 21 Grad wurden in den gesamten USA weniger Hass-Tweets abgesetzt. Das Minimum liegt bei Temperaturen zwischen 15 und 18 Grad Celsius.

Ober- und Untergrenze des Wohlfühlfensters variieren je nach Klimazone und dort üblichen Temperaturen. Mehr als 30 Grad Celsius sind jedoch über alle Klimazonen und sozioökonomischen Unterschiede wie Einkommen, religiöse Überzeugung oder politische Präferenz hinweg mit einem starken Anstieg von Online-Hass verbunden. Diese Bedingungen werden vielerorts häufiger erwartet. „Mit dem Klimawandel nehmen die Extreme überall zu, insbesondere sehr heiße Tage wird es in Zukunft öfter geben“, sagt Wenz.

Die Anonymität auf Social-Media-Plattformen kann Diskriminierung fördern.
Die Anonymität auf Social-Media-Plattformen kann Diskriminierung fördern.

© imago images/photothek / imago stock

„Selbst in einkommensstarken Gebieten, in denen sich die Menschen Klimaanlagen leisten können und andere Möglichkeiten zur Hitzereguluation haben, beobachten wir eine Zunahme von Aggression an extrem heißen Tagen“, sagt Mitautor Anders Levermann. „Ab 30 Grad Celsius geht es steil nach oben.“

Dies deute auf eine Grenze der Anpassungsfähigkeit hin. „Diese Anpassungsgrenze an extreme Temperaturen liegt möglicherweise noch unter der, die durch die pure Physiologie unseres Körpers gesetzt ist“, sagt Levermann.

Die Folgen aggressiven Online-Verhaltens für Betroffene können schwerwiegend sein. „Online-Hass kann vor allem bei jungen Menschen und Angehörigen von Minderheiten zu einer Verschlechterung der psychischen Gesundheit führen“, sagt Stechemesser.

„Es gibt erste Arbeiten, die auch darauf hinweisen, dass Hass online ein Vorbote von Hass-motivierten Gewalttaten in der offline-Welt sein könnte“, sagt Wenz. Hassrede vergifte das gesellschaftliche Klima. „Sie ist ein neuer Kanal, über den der Klimawandel den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die psychische Gesundheit der Menschen beeinflussen kann.“ Sehr schnelle und drastische Senkung der Emissionen von Treibhausgasen würde nicht nur der Außenwelt zugutekommen. „Der Schutz unseres Klimas vor einer zu starken Erwärmung ist auch für unsere psychische Gesundheit entscheidend.“

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