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Führende deutsche Intensivmediziner rieten mit einem Prognosemodell von Lockerungen ab.

© dpa

Prognose von Intensivmedizinern: Öffnungsschritte könnten zu mehr als 1000 Toten pro Tag führen

Ein Prognosemodell deutscher Intensivmediziner zeigt mögliche Auswirkungen der beschlossenen Lockerungen. Auch die Daten der Impfvorreiter sind eindeutig.

Ab dem 8. März öffnet sich Deutschland mit einem ersten größeren Schritt aus dem Lockdown in der Corona-Pandemie. Am späten Donnerstagabend beschlossen Bund und Länder sogar Lockerungen der Kontaktbeschränkungen. Beschlossen wurde auch eine „Notbremse“, sollte die bundesweite Inzidenz wieder über 100 Fälle pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen steigen. Derzeit liegt sie bei 69.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und andere führende Politiker:innen werden nicht übersehen haben, dass die Sieben-Tage-Inzidenz seit Mitte Februar leicht steigt. Auch dass die Impfstrategie weiter schleppend umgesetzt wird, bleibt ihnen sicher nicht verborgen. Doch wie passt das mit den Lockerungen zusammen?

Diese Frage stellen sich auch drei der führenden Intensivmediziner Deutschlands und veröffentlichten am Donnerstag ein aktualisiertes Prognosemodell. In diesem Modell simuliert die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) die Intensivbettenauslastung in Abhängigkeit der Infektionsdynamik und dem zu erwartenden Impfeffekt.

Das ernüchternde Bild, diesem Modell zufolge: Die Kombination aus Infektionsdynamik und Fortschritt der Impfkampagne lässt Lockerungen Anfang März eigentlich noch nicht zu. Erst etwas mehr als 8000 Impfdosen sind pro 100.000 Einwohner derzeit verimpft worden in Deutschland.

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Wie wenig das ist, zeigt ein Vergleich zu Vorreitern wie Israel oder Großbritannien: In Israel sind bereits rund 97.000 Impfdosen pro 100.000 Einwohner verimpft worden, in Großbritannien sind es mehr als 30.000 verabreichte Dosen pro 100.000 Einwohner.

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In Israel endete der Lockdown vor zwei Wochen größtenteils, allerdings nur für Genesene und Geimpfte mit einem sogenannten Grünen Pass. In Großbritannien sind leichte Öffnungsschritte aus dem im Vergleich zu Deutschland harten Lockdown für Montag geplant. Und auch in Deutschland gibt es Lockerungen, obwohl die Impfkampagne nicht weit genug zu sein scheint.

Deshalb warnt das DIVI mit seinem Prognosemodell vor den nun beschlossenen Lockerungen. Denn die prognostizierten Kurven der Intensivbettenauslastung verheißen nichts Gutes. In insgesamt drei Kurven rechnen die Intensivmediziner vor, zu welchem Zeitpunkt Öffnungsschritte welchen Effekt haben.

Die Öffnungen orientieren sich immer daran, dass bundesweit geöffnet wird – was bei einer Inzidenz unter 100 in jedem Bundesland möglich ist. Mittlerweile liegen rund 350 der mehr als 400 Landkreise und Kreisfreien Städte unter der Inzidenz von 100. In die Prognosen rechneten die Intensivmediziner auch das Impftempo mit ein – ein pessimistisches und ein optimistisches. Nach Angaben der DIVI ist das pessimistische Szenario derzeit das realistische.

Das Ergebnis der Prognosen: Aufgrund der leichten Öffnung Anfang März könnte die Zahl der Corona-Intensivpatienten dem Modell zufolge im Mai wieder auf mehr als 4000 steigen und, sollte bundesweit geöffnet werden, im Juni auf mehr als 6000.

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Knapp 6000 waren es zuletzt Ende Dezember, zwei Wochen später erreichte die Zahl der täglichen Todesfälle mit 1200 ihren Höhepunkt. Da laut Daten des DIVI-Intensivregisters bisher rund 30 Prozent der Corona-Intensivpatienten gestorben sind, wären ab Mai erneut mehr als 1000 tägliche Corona-Tote zu erwarten.

Zum Vergleich: Am Donnerstag meldete das DIVI rund 2800 Corona-Intensivpatienten. Die Gesundheitsämter meldeten dem Robert Koch-Institut (RKI) am Donnerstag 387 neue Todesfälle an oder in Verbindung mit dem Coronavirus.

Die Intensivmediziner rieten statt der nun beschlossenen Öffnungsschritte zu ersten Lockerungen frühestens im April. Laut Modell wäre die Intensivbettenauslastung dann zunächst maximal leicht gestiegen und dann gesunken – und somit auch die Zahl der Corona-Toten.

Zumal die Zahlen des DIVI-Intensivregisters eine Dunkelziffer an Todesfällen beinhalten dürfte. Denn: Das Register zählt nur solche Corona-Toten, die auf der Intensivstation sterben, bestätigte eine Sprecherin dem Tagesspiegel. Patienten, die auf die Normalstation verlegt werden und dort an den Folgen der Covid-Erkrankung sterben, tauchen nicht in der Statistik auf.

Auch rechnen die Intensivmediziner mit einer Verbreitung der Virus-Mutante B.1.1.7 von 22 Prozent. Mittlerweile gehen führende Virologen, so auch Christian Drosten, davon aus, dass B.1.1.7 schon in rund der Hälfte der positiven Tests festgestellt wird.

„Wir zählen Betten, keine patientenbezogenen Daten“, so die Sprecherin. Während 30 Prozent der Intensivpatienten sterben, seien es unter solchen Intensivpatienten, die künstlich beatmet werden müssen, sogar die Hälfte.

Großbritannien lockert, weil die Zahlen es hergeben

Zahlen aus Großbritannien zeigen, welch positive Auswirkungen ein längerer harter Lockdown gepaart mit schnellem Impffortschritt haben kann – gerade vor dem Hintergrund der grassierenden Mutanten. Während die Zahl der Todesfälle an oder in Verbindung mit dem Coronavirus sich in Deutschland mittlerweile in einer Art Talsohle befindet und die Neuinfektionen leicht zunehmen, sinken beide Zahlen in Großbritannien weiter deutlich.

Anfang Dezember begann die Impfkampagne in Großbritannien, als eine 90-Jährige die erste Biontech-Dosis injiziert bekam. Innerhalb von drei Wochen musste eine zweite Dose des Impfstoffs verabreicht werden, damit dieser eine Woche danach seine versprochene Wirksamkeit von 95 Prozent erreicht – demnach rund vier Wochen nach der ersten Impfung.

Anfang Januar waren also die ersten britischen Hochbetagten immunisiert. Und siehe da: Mitte Januar begann die Kurve bei den Hospitalisierungen zu sinken. Erhoben wurden die Daten von der Nationalen Gesundheitsbehörde (NHS). Im größten Landesteil England, wo mehr als vier von fünf Briten leben, sank die Anzahl der Einlieferungen ins Krankenhaus von rund 4000 kontinuierlich.

Die Verzögerung von ein bis zwei Wochen ist damit zu erklären, dass es maximal genau diese Zeit dauert, bis eine Infektion ausbricht und Menschen deswegen eingeliefert werden müssen.

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Allerdings ist der Rückgang der Hospitalisierungen nicht nur auf den Impffortschritt zurückzuführen. Anfang Januar trat ein harter Lockdown in Kraft, deutlich härter als in Deutschland. Die Menschen in Großbritannien dürfen ihre Häuser nur in wenigen, begründeten Ausnahmefällen verlassen und sich auch nicht mit Menschen anderer Haushalte treffen.

Fast zeitgleich nahm also die Zahl der Zweitimpfungen deutlich zu, minimierte der Lockdown die Kontakte der Menschen und damit auch die Zahl der neuen Corona-Fälle. Diese sinkt seit dem 10. Januar kontinuierlich. Bis heute gab es in England auch keinen Anstieg der Hospitalisierungen mehr. Von rund 4000 Mitte Januar sank die Anzahl auf zuletzt weniger als 1000.

Zwei Wochen nach Lockdown-Beginn und dem deutlichen Anstieg der Zweitimpfungen nahm auch die Zahl der Todesfälle ab. Dieser zeitliche Verzug ist wiederum damit zu erklären, dass es meist ein, bis zwei Wochen dauert, bis ins Krankenhaus eingelieferte Corona-Patienten versterben.

Am 20. Januar, mehr als eine Woche nach dem Höchststand an Hospitalisierungen von rund 4000, lag die Anzahl der an oder in Verbindung mit Corona verstorbenen Menschen bei mehr als 1800. Von Ende Januar bis zuletzt sank die Anzahl der täglich gemeldeten Toten auf im Wochendurchschnitt rund 300.

Bei der Sieben-Tage-Inzidenz zeichnet sich im Vergleich zu Deutschland ein eindeutiges Bild: Stieg sie in Deutschland in den vergangenen sieben Tagen von 63 Fällen pro 100.000 auf 69, sank sie in Großbritannien aufgrund von Lockdown und Impffortschritt von 115 Fällen pro 100.000 Einwohner auf 76.

In Israel zeigt sich die Wirkung der Zweitimpfungen

Noch eindrücklicher belegen die Corona-Todeszahlen aus Israel den Einfluss der Impfkampagne. Dort begann die Impfkampagne Ende Dezember, jetzt sind bereits fast alle Menschen über 50 Jahre geimpft. Ende Januar erhielten die ersten Menschen ihre Zweitimpfung, damals lag die Anzahl der Todesfälle pro Tag laut offiziellen Daten des israelischen Gesundheitsministeriums bei rund 80. Zuletzt waren es noch rund 20.

Wie in Großbritannien nahm die Zahl der schweren Erkrankungen, die vom israelischen Gesundheitsministerium veröffentlicht wird, ab zwei Wochen nach den ersten Zweitimpfungen ab. Nachdem die Zahl der schwer an Covid erkrankten Patienten Ende Januar noch bei rund 1200 lag, fiel die Zahl am 12. Februar unter 1000. Am Mittwoch wurden 699 schwer erkrankte Patienten gemeldet.

Rund zwei Wochen, nachdem die Zahl der Schwererkrankten unter 1000 sank, blieb die Zahl der Todesfälle bis Donnerstag konstant unter 30. Dem Gesundheitsministerium zufolge machen solche Menschen, die noch nicht geimpft worden sind, mittlerweile 78 Prozent der Corona-Toten aus. Der Anteil solcher, die bereits zweimal geimpft worden sind, ist verschwindend gering.

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Auch die Infektionszahlen in Israel passen zum Impffortschritt. Seit Ende Januar ist die Sieben-Tage-Inzidenz, abgesehen von einzelnen Ausreißern nach oben, stetig gesunken – von über 500 auf nun unter 300. Das bedeutet in diesem Fall: Erst bei einer schnelleren Impfstrategie wirken sich Lockerungen weniger stark auf Infektionszahlen, Hospitalisierungen und als Folge daraus die Zahl der Todesfälle aus.

In Großbritannien sinken die Infektionszahlen immer weiter, in Israel sanken sie und bewegen sich nun auf gleichbleibend hohem Niveau bei einer Sieben-Tage-Inzidenz um die 300. In Deutschland waren sie auch gesunken, steigen seit Mitte Februar aber wieder leicht an.

Aufgrund der großflächigeren Durchimpfung der Bevölkerung können sich Großbritannien und Israel die Lockerungen leisten. Das zeigt sich vor allem in Israel: Dort sinkt zwar die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen nicht mehr so stark, doch sinkt die Zahl der gemeldeten Todesfälle trotz Lockerungen weiter. Ein Indiz dafür, dass die Impfungen für weniger schwere Verläufe sorgen.

Dieser Effekt ist auch in Großbritannien zu erwarten, wo der harte Lockdown etwa auf den deutschen Stand vor den neuen Lockerungen geöffnet wird. Erst Ende März sollen deutlich mehr Kontakte möglich sein beispielsweise. Deutschland hingegen lockert mehr als Großbritannien und Israel, obwohl der Fortschritt der langsamen Impfkampagne dafür noch nicht soweit ist. So deuten die führenden deutsche Intensivmediziner die Zahlen.

In keinem EU-Land sind Lockerungen ratsam

Es gibt im übrigen derzeit kein Land in der Europäischen Union (EU), in dem Lockerungen aufgrund der Kombination aus Impffortschritt und Lockdown ratsam wäre. Das EU-Land mit den meisten verabreichten Impfdosen pro 100.000 Einwohnern ist Dänemark mit 11.000. Damit ist Dänemark auf dem Stand, den Großbritannien bereits Ende Januar hatte.

Deutschland und Dänemark sind die Länder mit den niedrigsten Inzidenzen in der EU, die Infektionslage ist weitestgehend vergleichbar. Nach einem starken Anstieg der Infektions- und Totenzahlen gingen diese bis zuletzt stark zurück, um in den vergangenen zwei Wochen wieder leicht zu steigen. Auch Dänemark lockert jetzt in ähnlichem Maße wie Deutschland.

Auch in Frankreich sollen die Maßnahmen nun angepasst werden. Dort sind noch weniger Impfdosen pro 100.000 Einwohner verabreicht worden als in Deutschland. Die Sieben-Tage-Inzidenz verharrt auf einem hohen Niveau über 200, die Todeszahlen stagnierten zuletzt nicht nur wie in Deutschland, sondern nahmen sogar leicht zu. Die logische Folge: Verschärfungen.

Eine logische Rechnung bei möglichen Maßnahmen könnte demzufolge sein: Bei stabilem Infektionsgeschehen und schneller Impfstrategie kann gelockert werden – wie in Israel und Großbritannien. Bei hohem Infektionsgeschehen und langsamer Impfstrategie muss über Verschärfungen nachgedacht werden – wie in Frankreich. Und bei stabilem, leicht zunehmendem Infektionsgeschehen und langsamer Impfstrategie sollte erstmal alles bleiben, wie es ist – wie in Deutschland und Dänemark.

Dem Versprechen von Kanzlerin Angela Merkel zufolge, jedem Deutschen bis Ende September ein Impfangebot zu machen, dürfte Deutschland den Impffortschritt, den Großbritannien gerade erreicht hat, voraussichtlich erst im Mai oder Juni erreichen. Bis dahin könnte jede weitere Lockerung zu früh kommen – wenn nicht ohnehin bald die „Notbremse“ gezogen werden muss.

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