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Gaben für die Bedürftigen. Stärkt Corona den gesellschaftlichen Zusammenhalt?

© dpa

Soziologen diskutieren über die Corona-Krise: Tatsächlich nur ein Ausnahmezustand – oder doch ein nachhaltiger Einschnitt?

Wird die Gesellschaft solidarischer? Am WZB erörtern Wissenschaftler die sozialen und kulturellen Folgen der Corona-Krise in einem öffentlichen Digital-Kolloquium.

Das Coronavirus könnte ein großer sozialer Gleichmacher sein. Denn der Erreger unterscheidet nicht zwischen Arm und Reich, Frau und Mann, Schwarz und Weiß. Egalisiert die Pandemie auch ihre Folgen und stellt eine gesellschaftliche Eintracht her? Oder weiten sich die Risse im sozialen Gefüge, da bestimmte, ohnehin benachteiligte Personengruppen stärker betroffen sind als andere?

Welche gesellschaftlichen, kulturellen und sozioökonomischen Konsequenzen die Coronakrise zeitigt, lotet nun ein digitales Kolloquium am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) aus. Die Veranstalter möchten den aktuellen „Soziologischen Perspektiven auf die Coronakrise“ eine Plattform liefern und laden auf ihrer Webseite zum Anhören wöchentlicher Vorträge über den Video-Kommunikationsdienst Zoom ein.

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Jeden Mittwoch zwischen 11 und 12 Uhr halten jeweils zwei namhafte Sozialwissenschaftler und Sozialwissenschaftlerinnen Vorträge und gehen auch auf Fragen der Zuschauenden ein. Das WZB stellt die Vorträge anschließend als Podcast zur freien Verfügung.

Was für Erkenntnisse gibt es bislang und was ist im Folgenden geplant? Den Anfang machten vorvergangene Woche die Soziologen Karl Ulrich Mayer und Armin Nassehi, die über den allgemeinen Beitrag der Soziologie zu einer datenbasierten Katastrophenhermeneutik und die „Infektion der Gesellschaft“ sprachen. Mayer machte klar, dass es nach bisherigem Wissensstand keinerlei Zweifel an einer sozialen Schichtung der Krise geben könne. Kontakt- und Ansteckungsrisiken, sowie Zugangschancen zu medizinischer Behandlung und Sterberisiken seien gesellschaftlich sehr unterschiedlich verteilt.

Werkzeugkasten der Soziologie

Die Soziologie solle ihren Werkzeugkasten bemühen, um diese differenten Wirkungen präzise zu ermitteln. Im Gegensatz zur Virologie, die sich Menschen wie Moleküle im Raum vorstelle, könnten soziologische Netzwerktheorien genauer eruieren, welche Akteure sich wann, wie und wo mit welcher Wahrscheinlichkeit begegnen, sagte Mayer. So stecken sich einkommensschwächere Personen tendenziell wahrscheinlicher mit dem Coronavirus an als einkommensstärkere Menschen, da sie berufsbedingt mobiler sein müssen.

Aktuell zeigten sich die sozialen Bedingungen der Ansteckungswahrscheinlichkeit aber besonders in den USA, so Mayer: „Gemessen am Bevölkerungsanteil sind Afroamerikaner doppelt so häufig infiziert wie andere US-Amerikaner, sie sterben auch zweimal so häufig.“

Hintergründe zum Coronavirus

Der Münchner Soziologe Armin Nassehi erörterte die unterschiedlichen Krisenmanagements verschiedener gesellschaftlicher Subsysteme und erklärte, dass moderne, funktional ausdifferenzierte Gesellschaften selten „aus einem Guss“ reagieren. Die (spät)moderne Gesellschaft ist laut Nassehi zu hyperkomplex für uniforme Antworten auf krisenhafte Ereignisse. „Die gesellschaftlichen Funktionssysteme reagieren ihrer eigenen Logik gemäß.“

Die Gesellschaft im Kriegsmodus

Ob Politik, Wirtschaft oder Wissenschaft – jede einzelne Sphäre hat ihre eigene Verhaltensgrammatik. Das anfängliche Durchregieren der Exekutive sei lediglich ein kurzfristiges Strohfeuer gewesen. Demnach gibt es eine starke Verschmelzung der gesellschaftlichen Systeme nur in absoluten Ausnahmefällen. „Die Programmierung der gesamten Gesellschaft durch das politische System ist gleichsam nur im Kriegsmodus möglich“, sagt Nassehi.

Der Soziologe Armein Nassehi.
 Der Kultursoziologe Armin Nassehi meint, das Virus infiziere die Gesellschaft.

© picture alliance / Horst Galusch

Nun aber sei die Gesellschaft dabei, sich wieder breitflächig auszufächern – was wiederum zu heftigen Zielkonflikten führt. „Wir sind normativ darauf geeicht, jedes einzelne Leben zu retten, aber wir stellen fest, dass jede Maßnahme unbeabsichtigte Nebeneffekte hat.“ Nicht zuletzt sei es Aufgabe der Politik, die verschiedenen Zielsetzungen gesellschaftlicher Subsysteme zu moderieren.

Weniger theoretisch und mit frischer Empirie im Gepäck präsentierten sich die WZB-Soziologinnen Mareike Büning und Lena Hipp, die die Zwischenergebnisse ihrer seit Mitte März laufenden Onlineumfrage corona-alltag.de zum Pandemie-bedingten Wandel des Erwerbslebens skizzierten. Bislang sind die Angaben von 6200 erwerbstätigen Personen im Alter von 18 bis 65 Jahren in die Auswertung eingeflossen. Dabei machten die Wissenschaftlerinnen deutlich, dass die Studie nicht auf einer zufälligen Stichprobe gründet und deshalb nicht repräsentativ ist. Gleichwohl könne man Tendenzen benennen.

Gewinner und Verlierer der Krise

So würden viele Menschen wegen der Corona-Pandemie weniger Stunden arbeiten als sonst, einige arbeiteten gar nicht mehr. Besonders die Arbeitssituation von Eltern habe sich gravierend verändert. „Im Vergleich zu kinderlosen Personen haben Eltern wegen der Doppelbelastung durch Erwerbsarbeit und Kinderbetreuung eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit mit reduziertem Stundenumfang zu arbeiten“, sagte Hipp. Mütter seien tendenziell stärker betroffen als Väter, da sie mehr von der zusätzlich anfallenden unbezahlten Care-Arbeit schulterten, was sich nachweislich auch auf Wohlbefinden und Arbeitszufriedenheit auswirke.

Abstand vorm Marktstand. Wächst derzeit eine allgemeine „Folgebereitschaft“?
Abstand vorm Marktstand. Wächst derzeit eine allgemeine „Folgebereitschaft“?

© imago images/Frank Sorge

Es gebe aber auch Anzeichen dafür, dass manche Gruppen von Frauen in der Krise gewisse Vorteile hätten. So arbeiteten Frauen häufiger in systemrelevanten Berufen. Hier seien die Sorgen vor Corona-bedingten Geldeinbußen und Arbeitsplatzverlust vergleichsweise eher gering. In der männlich dominierten Gruppe der Selbstständigen seien solche Ängste weit stärker vertreten. Ob die unterbezahlten aber systemrelevanten Berufe langfristig aufgewertet würden, müsse aber die Zukunft erweisen.

Probleme ganz anderer Art machte anschließend Rainer Schnell, Methodologe und Professor für Empirische Sozialforschung an der Universität Duisburg-Essen, geltend, indem er zusammen mit seinem Kollegen Menno Smid auf den methodisch mangelhaften Charakter aktueller Datenerhebung im Corona-Kontext hinwies. Schnell zufolge braucht es dringend eine Studie zum Verlauf der Infektion bei positiv getesteten Personen sowie Obduktionen zur Feststellung tatsächlicher Todesursachen.

Beschämend für Deutschland

Ebenso wichtig seien sozialwissenschaftliche Begleitstudien auf Basis von Zufallsstichproben – etwa zur Untersuchung einer sozialen Schichtung der Pandemieeffekte. „Vor allem brauchen wir eine große echte Zufallsstichprobe aus der Bevölkerung zur Bestimmung der Häufigkeit symptomlos Infizierter“, sagte Schnell auf Nachfrage des Tagesspiegels. So ließen sich etwa die Ergebnisse der – ohnehin umstrittenen – Heinsberg-Studie auch wegen der spezifischen Sozialstruktur des Ortes mitnichten auf Deutschland oder einzelne Bundesländer übertragen. Zudem sei die Studie nicht bundesweit verallgemeinerbar, da die Daten mit einer Haushalts- und nicht einer Personenstichprobe erhoben wurden. Insgesamt sei die klägliche Datenlage in Deutschland ziemlich beschämend, kritisiert Schnell.

Neue Staatsbedürftigkeit

Heinz Bude hingegen, Soziologe an der Universität Kassel, bringt am kommenden Mittwoch eine optimistische Gesellschaftsanalyse mit. In seinem Beitrag zu „Legitimationsglaube, Folgebereitschaft und Verhaltensorientierung“ konstatiert er eine wachsende Solidarität in der Krise, wie er vorab erklärt.

Der Soziologe Heinz Bude konstatiert ein wachsendes Bewusstsein für die Bedeutung kollektiver Güter.
Der Soziologe Heinz Bude konstatiert ein wachsendes Bewusstsein für die Bedeutung kollektiver Güter.

© picture alliance / Jens Kalaene

Anders als Nassehi liest Bude die Coronakrise nicht als „irreguläre Unterbrechung einer auch weiterhin geltenden gesellschaftlichen Reproduktionslogik“, sondern als ein gesellschaftliches Totalphänomen, das einen langfristigen Einschnitt bedeutet.

„Man akzeptiert die ‚Staatsbedürftigkeit’ der Gesellschaft, man ist bereit zur Selbstdisziplinierung im Dienst des Ganzen und man sucht nach einer neuen Wertvorstellung für die eigene Verhaltensorientierung“, erläutert Bude. Es wachse das Bewusstsein für die Bedeutung kollektiver Güter und des sozialen Zusammenhalts. So könnten wir live miterleben, wie sich das Verhältnis von Kultur, Gesellschaft und Individuum womöglich nachhaltig verändert. Reibungsfläche verspricht da das Thema, mit dem Budes Osnabrücker Kollege Aladin El-Mafaalani am Mittwoch dagegenhält: „Shutdown der offenen Gesellschaft“.

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