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Tschernobyl 20 Jahre nach GAU

© EPA

Wissen: Unglaublicher Sinn für Radioaktivität

Vögel können spüren, wie stark bestimmte Nistplätze verstrahlt sind. Das zeigen Untersuchungen im Wald bei Tschernobyl

Können Tiere radioaktive Strahlung wahrnehmen? Bisher galt das als wenig wahrscheinlich. Neuen Ergebnissen zufolge könnten zumindest einige Vogelarten diese Fähigkeit besitzen. Darüber berichten die Biologen Anders Møller (Pierre-und-Marie-Curie-Universität in Paris) und Tim Mousseau (Universität South Carolina) im Journal „Proceedings of the Royal Society“, Band 274, S. 1443.

Die Wissenschaftler konzentrierten sich auf den 250 Hektar großen „Roten Wald“ nahe am havarierten Atomreaktor von Tschernobyl. Dieses Gebiet war 1986 so stark verstrahlt worden, dass sich sämtliche Bäume in kürzester Zeit rot verfärbten und bald darauf abstarben. Mittlerweile ist der Wald wieder aufgeforstet worden. Heute macht er den Eindruck, sich völlig regeneriert zu haben. Trotzdem ist er immer noch radioaktiv verseucht, wobei allerdings das Ausmaß der Verstrahlung beträchtlich variiert.

Um herauszufinden, wie sich die unterschiedliche Intensität der Hintergrundstrahlung auf die Vogelwelt auswirkt, stellten Møller und Mousseau 232 Nistkästen auf. Sie beobachteten das Nestbauverhalten von Kohlmeisen und Trauerschnäppern und kamen zu einem verblüffenden Ergebnis: Die Vögel beider Arten machten einen weiten Bogen um die am stärksten verstrahlten Nistplätze – wobei die Trauerschnäpper eine weitaus geringere Strahlenbelastung in Kauf zu nehmen bereit waren als die Kohlmeisen.

Wie die Vögel es schaffen, die strahlungsärmsten Orte aufzuspüren, ist nach wie vor ein Rätsel. Dass sie gar nicht auf Radioaktivität reagieren, sondern nur ihre direkten oder indirekten Folgen, schließen die Forscher jedoch aus. Zwar ist die Radioaktivität im „Roten Wald“ stellenweise um bis zu 2000 Mal intensiver ist als die natürliche Hintergrundstrahlung. Doch es gibt keine äußerlichen Kennzeichen, die das den Vögeln verraten hätten. Es trifft auch nicht zu, dass sich die Vögel dort zum Brüten niederließen, wo sie das beste Futterangebot und die günstigsten Lebensbedingungen für ihren Nachwuchs hätten erwarten können. Denn sämtliche Nistkästen standen in ähnlichen Umgebungen und unterschieden sich einzig und allein durch den Grad der Strahlenbelastung.

Und schließlich kann es auch nicht stimmen, dass die Vögel von der Beobachtung ihrer Artgenossen profitierten und dort nisteten, wo ein Jahr zuvor die meisten Eier ausgebrütet worden waren. Denn dann hätten sich die einjährigen Kohlmeisen und Trauerschnäpper für andere Nistplätze entscheiden müssen als die zwei- oder dreijährigen.

Die schlüssigste Erklärung: Je mehr die Vögel radioaktiver Strahlung ausgesetzt sind, desto mehr nimmt die Konzentration der Vitamine A und E sowie anderer Antioxidantien im Blut und in der Leber ab. Mit geringerem Antioxidantien-Gehalt wächst aber die Gefahr, dass die Spermien geschädigt werden und die Fortpflanzungsrate sinkt. Deswegen, so schließen Møller und Mousseau, könnte es für Vögel ein großer Vorteil sein, mit einem Sensorium für Radioaktivität auf die Welt zu kommen.

Doch warum reagieren Trauerschnäpper empfindlicher auf Radioaktivität als Kohlmeisen? Auch hierfür haben die Forscher eine Erklärung. Anders als die standorttreue Kohlmeise ist der Trauerschnäpper ein Zugvogel, der südlich der Sahara überwintert. Wenn er im Frühjahr in Tschernobyl eintrifft, sind seine Antioxidantien-Reserven fast aufgebraucht. Deswegen tut er gut daran, sich vor radioaktiver Strahlung in höheren Dosen in Acht zu nehmen. Frank Ufen

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