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Verschiedene Szenarien möglich: So könnte Russland Nato-Gebiet angreifen
Experten warnen, dass Russland die Nato herausfordern könnte. Szenarien reichen von hybriden Angriffen bis zur begrenzten Besetzung von Nato-Gebiet.
Stand:
Droht Europa ein größerer Krieg? Putins nächste Schritte könnten die Nato herausfordern. Ein Waffenstillstand in der Ukraine – für viele wäre das die ersehnte Pause vom Krieg.
Doch Sicherheit für Europa brächte er kaum. Im Gegenteil: Experten warnen, dass Russland die Atempause nutzen könnte, um seine Streitkräfte neu aufzustellen. Gleichzeitig wächst die Unsicherheit, ob die USA unter Präsident Donald Trump im Ernstfall noch uneingeschränkt an der Seite der Nato stehen würden.
Könnte Putin bald testen, wie weit er gehen kann? Und was wäre ein solcher „Test“ – eine Provokation, ein hybrider Angriff oder gar ein begrenzter militärischer Vorstoß? Die entscheidende Frage wird sein, wie die Nato Russland an der Umsetzung dieser Strategie hindern kann.
Begrenzte Attacke Russlands ab 2028?
„Alle Stimmen aus Sicherheitskreisen, die ich kenne, gehen davon aus, dass Russland die Nato in den nächsten Jahren testen wird“, sagt der Militärhistoriker Sönke Neitzel, der an der Universität Potsdam den Studiengang War and Conflict Studies leitet. Er geht davon aus, dass es dabei in erster Linie darum geht, die westlichen Gesellschaften in einem hybriden Krieg weiter zu schwächen.
Russland könne damit testen, ob die Nato wirklich bereit ist zu kämpfen oder sich von Atomkriegsdrohungen einschüchtern lässt, sagt Neitzel. Interne Papiere deuten darauf hin, dass das russische Militär ab 2028 für eine begrenzte Attacke auf die Nato bereit wäre.
Die Antwort auf die militärische Stärke Russlands kann nicht Schwäche sein. [...] Es braucht ein politisch einiges und militärisch kampfkräftiges Europa.
Doch wird Putin so lange warten, bis Europa aufgerüstet hat? „Wir wissen es nicht, sollten aber vorbereitet sein“, warnt der Militärhistoriker, der von der renommierten London School of Economics nach Potsdam kam. Einen genauen Zeitpunkt könne man nicht vorhersagen, da er von mehreren Faktoren abhänge: dem Verlauf des Krieges in der Ukraine – insbesondere einem möglichen Waffenstillstand –, der Entwicklung der transatlantischen Beziehungen und der Entschlossenheit Europas zur Aufrüstung.
„Die Antwort auf die militärische Stärke Russlands kann nicht Schwäche sein“, sagt Neitzel. Europa müsse in der Lage sein, an seiner Peripherie für Sicherheit zu sorgen. „Das kann man nicht mit Diplomatie und Wirtschaftskraft allein: Es braucht ein politisch einiges und militärisch kampfkräftiges Europa.“ Neitzel hält Aufrüstung für notwendig und betont, dass die angestrebte Streitkräftestärke weit unter dem Niveau des Kalten Krieges liege.

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Im September plant Russland sein Großmanöver „Zapad 2025“ („Westen 2025“) in Belarus. Die Nato sollte dann Teile ihrer Response Force, ihrer Eingreiftruppe, mobilisieren, empfiehlt Neitzel. Ob diese auch ins Baltikum verlegt werden sollte, müsse das Oberkommando der alliierten Streitkräfte in Europa entscheiden. „Die Politik sollte aber bereit sein, dem Alliierten Oberbefehlshaber in Europa, kurz SACEUR, freie Hand zu geben, das militärisch Notwendige zu tun.“
Angriffe unter falscher Flagge?
Vor dem Hintergrund der Neuausrichtung der US-Außenpolitik unter Trump sieht auch die Politikwissenschaftlerin Margarete Klein wachsende Anreize für Russland, das transatlantische Bündnis auf die Probe zu stellen.
Da die Trump-Administration nun die Glaubwürdigkeit der Nato-Verteidigung infrage stellt, komme Russland seinem Ziel einer Revision der euro-atlantischen Sicherheitsordnung näher. „Russlands Führung wird ihre Schritte abwägen, um Chancen zur Unterminierung der Nato zu nutzen und den Bruch mit den USA zu vermeiden“, sagt die Leiterin der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).
Russland könnte diese Schwäche und die Schwächung des transatlantischen Bündnisses nutzen, um gestärkt aus dem Ukrainekrieg seine Ziele gegenüber Europa zu verwirklichen.
Einen direkten Angriff auf ein osteuropäisches Nato-Land hält Klein kurzfristig für eher unwahrscheinlich, solange Moskau in der Ukraine gebunden ist und seine Rüstungsindustrie noch Verluste ausgleicht. Wie Neitzel sieht aber auch sie die Gefahr, dass die Glaubwürdigkeit und Geschlossenheit der Nato auch unterhalb dieser Schwelle auf die Probe gestellt wird, etwa durch hybride Angriffe, die auf eine Spaltung der Nato abzielen.
„Dazu gehören Anschläge auf Rüstungsunternehmen oder kritische Infrastruktur, Cyberangriffe und Angriffe unter ,falscher Flagge’ in Nato-Staaten, während die Instrumentalisierung russischsprachiger Minderheiten vor allem Estland und Lettland beträfe, wo Moskau die Vorwürfe einer angeblich systematischen Unterdrückung verschärfen könnte“, sagt die Osteuropa-Expertin. Laut russischer Militärdoktrin dürfen Russlands Streitkräfte im Ausland intervenieren, um russische Bürger zu schützen.
Parallel dazu könnte das Großmanöver Zapad genutzt werden, um auch militärischen Druck zu verstärken. Zwar findet es erst im September 2025 statt, doch üblicherweise gehen zahlreiche Vorübungen voraus.
Einen möglichen Waffenstillstand hält Klein nur für einen vorübergehenden, taktischen Schritt Russlands, um der Trump-Administration keinen Anlass zu geben, die Normalisierung der Beziehungen zu beenden und sich auf weitere Aufrüstung und mögliche Angriffe auf die Ukraine oder Nato-Gebiet vorzubereiten.
„Wenn dieses Zeitfenster in Europa nicht genutzt wird, um Verteidigungs- und Abschreckungsfähigkeiten auszubauen, sondern man sich in einem falschen Friedensversprechen wiegt, bleiben Verwundbarkeiten bestehen“, betont die Wissenschaftlerin, die sich mit russischer Militärpolitik beschäftigt. „Russland könnte diese Schwäche und die Schwächung des transatlantischen Bündnisses nutzen, um gestärkt aus dem Ukrainekrieg seine Ziele gegenüber Europa zu verwirklichen, wie sie in den Vertragsentwürfen von Dezember 2021 formuliert wurden.“
Sollte eine temporäre Waffenruhe in einen längerfristigen Waffenstillstand übergehen, geht Klein davon aus, dass politische und gesellschaftliche Stimmen in Deutschland dafür plädieren, die Stärkung der Verteidigungs- und Abschreckungsfähigkeit zurückzufahren. „Dies beruht jedoch auf dem Missverständnis, dass ein Waffenstillstand bereits ,Frieden’ bedeutet“, warnt die Forscherin.
Was, wenn Russland in der Ukraine siegt?
Auch der Sicherheitsexperte Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations (ECFR) hält einen Angriff auf Europa in der aktuellen Situation für unwahrscheinlich. „Solange die russische Armee in der Ukraine gebunden ist, hat sie nicht die nötigen Kräfte frei, um einen Angriff auf Europa zu nähren und durchzuhalten“, sagt er.
Russland könne allenfalls einen kurzen Vorstoß auf Nato-Territorium wagen, aber selbst die Europäer allein könnten die Kraft aufbringen, ihn wieder zurückzudrängen. „Dann aber hat Putin einen Krieg mit der Nato begonnen, selbst wenn es nur der europäische Teil ist, ohne dass man klare Vorteile daraus ziehen könnte“, sagt Gressel.

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Anders sehe es aber aus, wenn Russland in der Ukraine gewinnen sollte. Russland hatte laut Gressel zum Höhepunkt seiner militärischen Leistungsfähigkeit 650.000 Mann, 3400 Kampfpanzer, 7000 Schützen- und Mannschaftstransportpanzer, 5000 Stück Rohrartillerie und 2000 Mehrfachraketenwerfer in der Ukraine stationiert.
Daher ist aus russischer Sicht die Perspektive verlockend, nach einem möglichen Sieg in der Ukraine gleich weiterzumarschieren.
Die Nato Response Force war 45.000 Mann stark, und nur langfristig wollen die Europäer 300.000 Mann in erhöhter Einsatzbereitschaft erhalten. Zudem setzen die russischen Streitkräfte täglich 3000 Drohnen ein, die sich über die Kräfte der Europäer ergießen würden. „Und bei uns fehlt es an ausreichend Systemen der elektronischen Kampfführung und der Drohnenabwehr, um diesen Herr zu werden“, sagt Gressel.
„Daher ist aus russischer Sicht die Perspektive verlockend, nach einem möglichen Sieg in der Ukraine gleich weiterzumarschieren“, sagt Gressel weiter. Vor dem Hintergrund mangelnder Unterstützung durch die USA könnte Russland zuschlagen, bevor Europa aufrüstet, und es mit „vorgehaltener Pistole“ zu einer Moskau genehmen „Friedensordnung“ zwingen.
Die Frage sei jedoch, wie wahrscheinlich ein russischer Sieg sei, wie teuer er sein werde und in welchem Zustand die russische Armee dann sein werde. Letztlich sei die Frage, wie schnell die russische Rüstungsindustrie die erlittenen Verluste ausgleichen könne. Hilfreich sei in diesem Zusammenhang, dass Trump die US-Hilfen nicht verlängere, was einen Sieg ermögliche und russische Verluste minimiere. Dies erhöhe Putins Zuversicht, den Krieg relativ schnell gewinnen zu können.
Gressel sieht das skeptischer. Die ukrainische Rüstungsindustrie sei in einem viel besseren Zustand als 2022 oder 2023, auch die europäische Rüstungsindustrie habe Impulse erhalten, zumindest in der Munitionsproduktion. „Wenn sich die Europäer in die Waagschale werfen würden und die Unterstützung der Ukraine zur höchsten Priorität machen, könnten wir Putins Pläne durchkreuzen und der Ukraine zumindest das Überleben sichern“, ist der Experte sicher.

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„Hier kommt das Manöver Zapad 2025 ins Spiel“, sagt Gressel. Putin wolle die Unterstützung für die Ukraine unterbinden und Europa einschüchtern. „Das Signal russischer Angriffsbereitschaft soll vor allem die Nachbarstaaten dazu bringen, Geld und Material lieber in die eigene Armee statt in die Ukraine zu stecken.“ In Polen läuft diese Debatte – Hilfe für die Ukraine oder eigenes Aufrüsten – bereits seit Langem. „Deshalb das Säbelrasseln, die Einschüchterung, die aggressive Rhetorik“, sagt Gressel.
„Das soll uns aber nicht beirren“, sagt Gressel. „Die Ukraine erkämpft uns die Zeit, nachrüsten zu können. Dafür braucht sie jetzt jede Art der Unterstützung.“
Bereitschaft für Ernstfall zeigen
Carlo Masala, Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München, hält einen Test der Nato durch Russland eher gegen Ende der Amtszeit von Donald Trump im Weißen Haus für wahrscheinlich. Bis dahin werde Moskau versuchen, das Maximum aus den bilateralen Beziehungen zu den USA herauszuholen.
Ein solcher Test könnte eine begrenzte Aktion gegen Nato-Territorium sein – eine Mischung aus hybriden und militärischen Mitteln, um die Entschlossenheit der Allianz zu prüfen. Reagiere die Nato nicht gemäß Artikel 5, der zur Beistandspflicht beim Angriff auf einen Bündnispartner verpflichtet, sei sie militärisch am Ende „und Russland hätte sein Ziel erreicht“, sagt Masala.

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Doch wie sollte die Nato auf einen solchen Angriff reagieren? „Man kann einen Angriff auf das Nato-Territorium nicht ins Leere laufen lassen“, sagt Masala. Denn die gesamte Existenzberechtigung der Nato hänge von der Glaubwürdigkeit des Versprechens der kollektiven Verteidigung des Territoriums ihrer Mitgliedstaaten ab.
Ein Aussetzen oder eine Verlangsamung der europäischen Bemühungen, verteidigungsfähig zu werden, [würde] für Russland Gelegenheiten schaffen, seine Ziele mit militärischen Mitteln durchzusetzen.
Man könne aber im Vorfeld dafür sorgen, dass man über die militärischen Mittel verfüge, um Russland zu signalisieren, dass man einem russischen Angriff ernsthaft entgegentreten könne. „Und man muss die Bereitschaft, diese Mittel im Ernstfall einzusetzen, beständig signalisieren.“
Die Gefahr eines russischen Angriffs auf Nato-Territorium durch das russische Manöver Zapad im September sei eher gering, da alle Augen auf dieses Manöver gerichtet seien, sagt Masala. „Russland würde eher ein Szenario wählen, das für Russland mit einem geringeren Risiko verbunden ist und einen Überraschungseffekt enthält.“
Sollte es jedoch zu einem wie auch immer gearteten Frieden kommen und Russland sich für einige Jahre „ruhig“ verhalten, befürchtet auch Masala, dass überall in Europa die Stimmen lauter werden, die in der Politik der Verteidigungsbereitschaft nur unnötigen Militarismus sehen.
„Da Russland aber eine neo-imperiale Macht ist, die ihren Einflussbereich ausdehnen will, würde ein Aussetzen oder eine Verlangsamung der europäischen Bemühungen, verteidigungsfähig zu werden, für Russland Gelegenheiten schaffen, seine Ziele mit militärischen Mitteln durchzusetzen“, ist Masala überzeugt.
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