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Die Vorbereitungen zur Geburtstagsfeier laufen: Nur und ihre Tochter

© Limerencia Films

Zum Sterben zu jung: TÓTEM von Lila Avilés

Das international gefeierte Regiedebüt der mexikanischen Filmemacherin Lila Avilés. Sie macht ein wuseliges, mehrgenerationelles Geflecht zum Kraftfeld ihrer Erzählung.

Im hintersten Zimmer eines Hauses quält sich ein schwerkranker Mann durch den Tag. Der Krebs hat bereits seine Wirbelsäule angegriffen, er kann sich kaum auf den Beinen halten, leidet an Schmerzen. Schon seine Mutter erlag der Krankheit – in eben diesem Raum am Ende des Korridors.

Tonatiuh, der zum Sterben viel zu junge Mann, ist Maler und Vater einer siebenjährigen Tochter. Sol (Naíma Sentíez) erahnt die Dimension, die der bevorstehende Verlust bedeutet. Immer wieder verlangt sie den Vater zu sehen, ständig wird sie abgewimmelt und auf später vertröstet. Tona müsse sich ausruhen und Kräfte sammeln für die abendliche Geburtstagsparty, die seine Familie ihm ausrichtet.

In „Tótem“, dem zweiten Spielfilm von Lila Avilés nach „La camarista“ (2018), kreisen alle Bewegungen um den Todgeweihten. Er selbst, von der Pflegerin Cruz mit sanfter Zuwendung betreut, verlässt erst spät im Film das Zimmer, ist aber auch in Abwesenheit das Zentrum einer geschäftigen Betriebsamkeit.

Nicht ohne Weiteres entwirrbar

Avilés, die „La Ciénaga – Morast“ von Lucrecia Martels wie auch die Arbeiten John Cassavetes als wegweisend für ihren Weg als Filmemacherin nennt, wirft die Zuschauer:innen mitten hinein in das Durcheinander um die Vorbereitungen des letzten Geburtstagsfestes, das Tona erleben wird. Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen, der Großvater: Wer hier wer ist und mit wem wie verwandt, ist ohne Weiteres nicht zu entwirren. Die eher engen 4:3-Bilder verhindern zusätzlich die Übersicht.

Mehrgenerationelle Verwirrungen. Tonas Schwester Nuri.

© Limerencia Films

Es ist ein wuseliges, mehrgenerationelles Geflecht, das die mexikanische Filmemacherin zum Kraftfeld ihrer Erzählung macht, auch zahlreiche Pflanzen und Tiere werden in den Organismus miteingesponnen. Dazu zählen ein über die Jahre liebevoll gepflegter Bonsai und andere Gewächse, die in den schon etwas schrabbeligen Räumen des Elternhauses erheblichen Platz beanspruchen. Außerdem Hund, Katze, Papagei, Goldfisch, Schnecken, Gottesanbeterin und Ameisen. Selbst zwischen die Titel des Abspanns haben sich allerhand Tiere eingenistet. Die Verweise auf Mystik und Animismus sind zahlreich.

Von der Erzählstruktur gleicht „Tótem“ einem komponierten Chaos aus losen miteinanderverbundenen Szenen. Tonas Schwester Alejandra färbt sich die Haare, Nuri, die andere Schwester, bäckt einen Kuchen, ihre kleine Tochter Esther, die vorübergehend Platz auf einem fettverschmierten Kühlschrank gefunden hat, bearbeitet mit einer Schere einen Geldschein. Sol setzt Schnecken, die sie im Garten gesammelt hat, auf Gemälde und befragt die Handy-KI zum Untergang der Welt.

Der Tod ist ein ungebetener Gast

Zwischendrin empfängt der Großvater, ein Therapeut, der sich nur mit einem elektronischen Stimmgenerator verständlich machen kann, noch eine in Tränen aufgelöste Patientin. Alle versuchen auf ihre Weise den Tod, der sich wie ein ungebetener Gast ins Haus geschlichen hat, mit ihren mal zerstreuten, mal hingebungsvollen Beschäftigungen zu übertönen. Allein Sol nimmt sich den Raum innezuhalten und zu begreifen. An den verschiedensten Orten – zwischen zusammengestellten Sesseln, in einem Regalfach, auf dem Hausdach – schafft sie sich kleine Inseln der Zuflucht und des Rückzugs.

Die Aneinanderreihung und Verschachtelung von Alltagsmomenten erzeugen eine ganz eigene Choreografie – fast einen Tanz. Bei allem feinen Gespür für Rhythmus und Zusammenspiel wirkt die ausgestellte Beiläufigkeit zunächst aber auch etwas aufdringlich.

Ständig fängt irgendetwas Feuer. Sol auf der Geburtstagsfeier ihres Vaters Tona.

© Limerencia Films

Avilés verleiht selbst einer Kloszene den Anstrich einer Kuriosität, über jeder noch so nebensächlichen Beobachtung liegt der Gestus einer Unterstreichung. Immer wieder auch spielen sich kleine Dramen ab. Ständig fängt irgendetwas Feuer, ein Kuchen, eine Ohrenkerze, eine Himmelslaterne.

Überschuss an Aktivitäten

Auch an Ritualen und spirituellen Werkzeugen mangelt es nicht, angefangen von Tamarindensamen, aus deren Formationen es etwas herauszulesen gilt über eine Quantentherapiesitzung bis hin zu dem grotesken, ironisch gezeichneten Zeremoniell einer Heilerin, die mit einem brennenden Brötchen Geister und schlechte Energien aus dem Haus scheucht. Es herrscht ein ständiger Überschuss an Aktivitäten.

Tatsächlich konturiert sich der emphatische Vitalismus immer mehr zum eigentlichen Kern der Erzählung. Durch das vielstimmige Knäuel bahnt sie sich ihren Weg zu dem großen, tröstlichen Fest, bei dem weit mehr gefeiert wird als der von der Liebe seiner zahlreichen Gäste beseelte Tonatiuh. Sein Name habe die gleichen Wurzeln wie Tonalpohualli, der rituelle, mit Tieren, Pflanzen und Naturerscheinungen verbundene Kalender aus der Zeit der Azteken, heißt es in einer Rede.

Und dass dieser Kalender einer zyklischen Ordnung folge, die nie an denselben Punkt führe. „Tótem“ ist ein erstaunlich unmorbider Film. Er mobilisiert vielmehr alle familiären, freundschaftlichen und artenübergreifenden Verbindungen, um sich für das Leben stark zu machen – sei es auch an anderen Orten.

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