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Hasankeyf in Südosten-Anatolien. 2020 wurden Protesten zum Trotz für den Bau des Ilisu-Staudamms große Teile der historischen Stätten überschwemmt.

© Andréas Lang

Andréas Langs Bildband „Broken Memories“: In der Schwebe zwischen Vergangenheit und Gegenwart

„Visuelle Archäologie“: Der Berliner Fotograf Andréas Lang war fünf Jahre lang in der Türkei auf der Suche nach Relikten der Geschichte Armeniens.

Wenn am heutigen Donnerstag im Grand Palais die Messe Paris Photo eröffnet, dann gehört zu den Attraktionen wieder das Book-Signing. Über 300 Fotografen signieren im Halbstundentakt ihre Fotobücher, eine besondere Gelegenheit den Berühmten der Branche näher zu kommen.

Auch der Berliner Fotograf Andréas Lang ist angereist, um seinen Bildband „Broken Memories“ vorzustellen, den Abschluss eines mehrjährigen Rechercheprojekts in der Türkei während seiner Aufenthalte 2018, 2020 und 2023 in der deutschen Kulturakademie Tarabya.

In diesem Sommer präsentierte er im Istanbuler Kulturzentrum Depot, zu dessen Unterstützern der seit 2020 erneut inhaftierte Mäzen Osman Kavala gehörte, seine um Videos ergänzten Fotografien in einer Ausstellung. Das Fotobuch ist die Essenz seiner Recherche zu den historischen Spuren türkischer Landschaften. Die Ausstellung besaß Sprengstoff an diesem Ort, denn Andréas Lang spürte insbesondere den Relikten der armenischen Vergangenheit nach, die nach der Vertreibung und Genozid verblieben sind.

Kein Schild weist auf sie hin, der Fotograf behalf sich mit historischen Überlieferungen, frühen Reiseberichten oder auch dem Brief eines Offiziers der alliierten deutschen Truppen, der die Zerstörung eines armenischen Quartiers in der Stadt Şanlıurfa durch die Ottomanische Armee befehligte.

Am unerfreulichen Teil der militärischen Maßnahme, der Deportation der Bewohner und den Kriegsgerichten, müsse er sich nicht mehr beteiligen, schrieb er 1915 erleichtert nach Hause. Die Fotografie zeigt eine wundersam erhalten gebliebene antike Treppe, die zu einem Mauerdurchgang führt, hinter dem sich das schiere Nichts eröffnet.

Andréas Lang nennt seine Methode „Visuelle Archäologie“. Angewandt hat er sie bereits in Polen, wo er die Einschreibungen des Zweiten Weltkrieges aufspürte, im Nahen Osten auf der Suche nach den Relikten der Kreuzritter und in einstigen deutschen Kolonien in Afrika.

Reifen-Werkstatt in Istanbul mit einem reproduzierten Historiengemälde im Hintergrund, auf dem Mehmet II. (der Eroberer) in Konstantinopel einzieht. Fotografie von 2018.

© Andréas Lang

In „Broken Memories“ geben seine Landschaftsaufnahmen, meist im Panorama, Hinweise auf die gewaltsame Vergangenheit durch einen markanten Felsblock, Kirchenruinen, Mauerreste. Aber auch im Alltagsleben spürt er sie auf, wo das Narrativ einer heldenhaften Geschichte in Plakaten, archäologischen Parks oder mit Miniatur-Denkmalen von Atatürk verfestigt werden soll und doch geklittert wirkt.

In einer Istanbuler Werkstatt für Autoreifen hängt an einer Tür die Reproduktion des Historiengemäldes „Mehmet II. (der Eroberer) zieht in Konstantinopel ein“ aus dem Jahr 1898 von Fausto Zonaro, dem italienischen Hofmaler des Sultans. Die Werkstatt ist nur wenige hundert Meter von der Byzantinischen Mauer entfernt, durch die 1453 Mehmet II. einritt, der Begründer des Osmanischen Reiches. Die glorreiche Vergangenheit, der Wunsch nach alter Größe prallt hier auf die Niederungen der Gegenwart.

Die Reste von Stanoz, einem einst armenischen Dorf in der Ost-Türkei. Aufnahme von 2018.

© Andréas Lang

Menschen gibt es so gut wie keine in Andréas Langs Aufnahmen. Er lässt die Orte sprechen, indem er sehr ruhig hier einen Graben zeigt, der während des Ersten Weltkriegs für die Schlacht von Gallipoli ausgehoben wurde, bei der 600.000 Menschen zu Tode kamen, und der langsam von der Natur wieder geschlossen wird.

Oder indem er eine nächtliche Landschaft in Çüngüş im Südosten der Türkei fotografiert, wo eine einsame Straßenlaterne rötliches Gestein beleuchtet. In der Nähe lebten bis 1915 rund 10.000 Armenier, von denen viele bei einem Massaker in die Dudan-Schlucht geworfen wurden. Der geisterhafte Schein auf Andréas Langs Fotografie wirkt mit dem Wissen wie ein Friedhofslicht. Seine Aufnahmen entzünden es für die vergessenen Toten.

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