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Soundkünstlerin Claire Rousay

© Zoe Donahoe / Claire Rousay Promo

Folge 193 „Wochniks Wochenende“: Das Surren von Kühlschränken und der Wandel von Kunstbegriffen

Die Musik von Claire Rousay macht Verschiebungen im Gemeinsinn hörbar, wie schon Immanuel Kant fand. Freitagabend im Silent Green.

Eine Kolumne von Thomas Wochnik

Bombast, Virtuosentum, göttliche Eingebung und die vielzitierte Intention der Künstlerin – Kriterien der Kunst, die schon gestern gestrig waren. Klar, wer versucht, die Kunst zu definieren, das heißt: ihrem Begriff Grenzen zu setzen, verdient kein Mitgefühl, wenn ihn die Realität überholt. Kunst ist nun mal kein systematisch herleitbarer Begriff, sondern eine stetig wachsende Ansammlung von Beispielen, die den Begriff immer weiter dehnt. Sagt die Philosophie.

Der, wenn man es so nennen will, Fortschritt der Kunst folgt mal dem der Gesellschaft, aus der sie hervorgeht. Mal läuft er den Dingen voraus. Synchron sind Kunst und Gesellschaft selten – und meistens verheißt Synchronizität nichts Gutes. Unter autoritären Regimen scheinen beide synchron, dort gibt es auch keine öffentlichen Debatten darum, was Kunst ist und was nicht, weil von Staatswegen diktiert.

Überall sonst ist die Behauptung, etwas sei Kunst, oder, noch bei Immanuel Kant: es sei schön, ein Appell an den sensus communis, den Gemeinsinn. Wenn Sie also zu jemandem sagen, „das ist aber schön“, oder „das ist Kunst“, appellieren Sie an diesen Menschen, ihnen in einer Sache, die auf keine erdenkliche Weise bewiesen oder widerlegt werden kann, zuzustimmen.

Vor allem, wenn uns jemand, den wir schätzen, darin widerspricht, kann das sogar zu Kummer und so mancher lebhaften Auseinandersetzung führen, was auch bedeutet: Es geht hier nicht um persönliche Geschmäcker. Jemanden, dem etwa Erdbeeren partout nicht schmecken, mögen Sie bemitleiden. Sie werden aber wohl kaum mit ihm darüber streiten.

All das gilt natürlich vor allem für zeitgenössische Kunst, weil Dinge, deren Kunstcharakter als historisch gesichert gelten, sich solchen Debatten mit Verweis auf die Geschichte leicht entziehen. Die Geschichte der Kunst reflektiert also die Geschichte des sich wandelnden Gemeinsinns, wie schon bei Immanuel Kant zu lesen. Oder jüngst dem belgischen Kunsttheoretiker Thierry de Duve.

Intimes Geflüster und Hintergrundrauschen

Was für ein langer, aber notwendiger Einstieg, um auf ein Konzert hinzuweisen. Die US-Musikerin, Sound- und Spoken-Word-Künstlerin Claire Rousay tritt diesen Freitagabend um 20 Uhr im Silent Green auf. Und an ihrer Kunst zeigt sich, wer weiß, eine Verschiebung des Gemeinsinns? Oder nur eine weitere Asynchronizität?

Denn größer könnte, um den Kreis zum Anfang zu schließen, der Abstand zu Bombast, Virtuosentum, göttlicher Eingebung und der schon immer überbewerteten Intention der Künstlerin als Kriterium für ihre Kunst kaum sein. Was Rousay erschafft, statt irgendeiner genialistischen Selbstüberhöhung, sind Welten aus intimem Geflüster und Nebengeräuschen, Hintergrundrauschen und Nebensächlichkeiten.

Es ist die Banalität des Alltags selbst, die hier mithilfe von Audioaufnahmen aus leeren Hotelzimmern, vergänglichen Gesprächen mit Freunden, gefundenen Geräuschen, beiläufigen Gedanken, dem Spiel auf der Akustikgitarre auf dem Sofa vor laufendem Fernseher zur Blüte gelangt. Und es ist eine Kunst, die jedes Publikum, das Bombast, Virtuosentum, göttliche Eingebung und die ewig überhöhte Absicht der Künstlerin braucht, eher überfordern, vor den Kopf stoßen dürfte.

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