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Schunkelnder Übergang in den Feierabend. Die Besprechung im Videocall ersetzt notgedrungen das Treffen in der Kneipe. Dass in Deutschland in der Summe mehr Alkohol getrunken wird, belegen die Statistiken aber nicht, sagen Konsumforscher.

© imago images/UIG

Absatz von Alkoholgetränken steigt: Blaue Stunde im Homeoffice

Getränkemärkte machen Rekordumsätze mit Bier, Wein und Schnaps. Trinken sich Berlins Arbeitnehmer die Krise schön?

"Alkohol ist dein Sanitäter in der Not, Alkohol ist dein Fallschirm und dein Rettungsboot…“, singt Herbert Grönemeyer in einem seiner bekannten Songs von 1984.

Wer in diesen Tagen die Tweets und Kommentare zum Hashtag #Homeoffice in der Coronakrise auf Twitter verfolgt, gewinnt leicht den Eindruck, das Grönemeyer schon damals den Soundtrack für das Frühjahr 2020 getextet hat.

Eine Auswahl: „17:30, die erste Flasche Wein ist durch. Ich mag dieses #Homeoffice“, schreibt jemand.

„Es ist 10:27, und ich habe mir beim Telefonieren ein Glas Wein eingeschenkt. Einfach so. #Homeoffice“, twittert die Nächste.

Und eine dritte Person fragt ganz grundsätzlich: „Ab wann ist das erste Glas Wein im #Homeoffice erlaubt?“.

Dann folgen im Nachrichtenfeed Fotos, wie etwa das ohne Kopf, dafür mit Rotweinglas in der Hand und den Zeilen: „Die Mittagspause kann schon mal so aussehen.“ Bier kommt im #Homeoffice auf Twitter zwar etwas weniger vor – wird aber offenbar auch viel getrunken (siehe Tweets zu „Bier ab vier“).

"Ab wann ist das erste Glas Wein im #Homeoffice erlaubt?"

„Wir verkaufen mindestens ein Drittel mehr Alkohol, wenn nicht sogar noch mehr“, bestätigt die Verkäuferin eines Getränkehandels in Tempelhof.

Einige Kunden kommen seit Beginn des Shutdowns zirka alle zwei Tage mit riesigen Ikea-Taschen: Leergut abgeben, neue Ware kaufen. Dabei handelt es sich auch – aber eben nicht nur – um Wasserflaschen. Auch Späti-Pächter in Neukölln berichten, dass sie in Corona-Zeiten einen viel höheren Umsatz machen – offenbar weil die Kneipen und Restaurants seit Wochen geschlossen sind.

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Was die Mitarbeiterin für ihre Getränkefiliale am Verkaufstresen subjektiv festgestellt hat, kann Mario Benedikt mit Zahlen belegen. Er ist Geschäftsführer des Unternehmens „Getränke Hoffmann“, das einst 1966 in der Neuköllner Hobrechtstraße von Hubert Hoffmann gegründet worden ist und heute mehr als 300 Läden in Deutschland betreibt: In der Region Ost (Berlin und Brandenburg) sei im März der Verkauf von Wein um 20 Prozent, der von Spirituosen um 15 Prozent ebenso wie der von Bier um 15 Prozent gestiegen. „Wir haben aber auch einen höheren Kundendurchlauf“, betont Benedikt, „und daher mehr Umsatz“. Ebenso sei der Verkauf der nicht-alkoholischen Getränke wie Mineralwasser und Limonaden viel höher als sonst. „Wir verkaufen mehr, weil ein großer Player, die Gastronomie, momentan nicht dabei ist“, beschreibt der Geschäftsführer die Lage. Beschweren wolle er sich nicht darüber – der Getränke-Einzelhandel ist einer der Gewinner im Pandemie-Stillstand.

In der Region Berlin/Brandenburg stieg der Wein-Verkauf um 20 Prozent

Die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) hat kürzlich Zahlen zum bundesweiten Alkohol-Absatz aus dem Zeitraum der Kalenderwochen neun bis 14 – also von Ende Februar bis Ostern – ausgewertet: Demnach wurden 34 Prozent mehr Wein verkauft, 31 Prozent mehr klare Spirituosen und 11,5 Prozent mehr Bier. Beim Whiskey gab es einen Zuwachs von 19,5 Prozent, beim Weinbrand um zwölf. Die Zahlen kann man für voll nehmen. Denn Basis der Auswertung ist nicht etwa eine Telefonumfrage, deren Ergebnisse mitunter auch durch sozial erwünschte Antworten verzerrt werden. Die Basis für die Auswertung sind die Einkäufe von 30 000 Haushalten, die Kunden zu Hause einscannen.

Zur Einordnung legt Gfk-Sprecher Robert Kecskes die Zahl der „Fast moving consumer goods“ (FMCG) zugrunde: Das sind die sogenannten schnelllebigen Konsumgüter wie Getränke, Lebensmittel und Drogerieprodukte:

Hier hat es laut GfK eine Steigerung um 21 Prozent in dem entsprechenden Zeitraum gegeben. Also ist der Wein-Verkauf mit 34 Prozent im Vergleich recht hoch, ebenso die klaren Spirituosen (31 Prozent). Der Bier-Absatz hingegen sei mit einem Plus von 11,5 Prozent zu den 21 Prozent der FMCG-Ware nicht so auffällig gestiegen. „Die Zuwachsrate bei den FMCG-Gütern ist unsere Benchmark“, sagt Kecskes.

Aufgrund der Zahlen könne man aber nicht darauf schließen, dass die Deutschen insgesamt mehr Alkohol trinken.

Auch Kecskes betont, dass man von einer Verlagerung des Alkohol-Konsums nach Hause sprechen kann in dieser Zeit, in der Bars und Restaurants wegen der Pandemie geschlossen haben. „Es deutet darauf hin, dass man es sich zu Hause schön machen möchte“, sagt der Gfk-Sprecher. So sei durch die Homeoffice-Situation oftmals die ganze Familie zu Hause, es werde dreimal am Tag gegessen, statt sonst mittags in der Kantine. Da werde vielleicht auch eher unter der Woche mal eine Flasche Wein aufgemacht, als das womöglich früher der Fall gewesen ist.

Gemeinsame Cocktailparty via Zoom-App oder Videocall

Dank der Digitalisierung treffen sich Menschen nun auch zur gemeinsamen Geburtstagsparty oder auch zum gemeinsamen Weintrinken per Webcam – Cocktailpartys finden via Videokonferenz-App Zoom statt, wo die Feiernden ihre Spirituosen daheim zusammenmixen und sich am Computer gemeinsam online zuprosten. Auch Bier- und Wein-Tastings gibt es weiterhin – nur eben digital „in der Skyp-e“. Und der Alkohol dafür muss vorher nach Hause geholt und dort getrunken werden, wo er früher in der Vinothek verköstigt wurde.

Interessant ist die Tatsache, dass laut GfK der Verkauf von Sekt und Champagner nicht gestiegen, sondern im Gegenteil sogar um minus neun Prozent zum Vorjahreszeitraum gesunken ist. Hier lässt sich nur mutmaßen: Sekt und Schampus werden getrunken, wenn es etwas zum Feiern gibt. Aber so richtig ist das in Coronazeiten ja nicht möglich.

Noch etwas lässt sich aus den Gfk-Zahlen schließen: Während der Wein-Umsatz um 34 Prozent gestiegen ist, beträgt das Plus der Menge an Flaschen aber nur 26 Prozent mehr. „Das deutet darauf hin, dass die Verbraucher einen höheren Preis pro Flasche zahlen“, sagt Kecskes.

Einen Boom erlebt der e-Commerce Handel mit Wein

Den höheren Weinverkauf im Einzelhandel sieht Peter Rotthaus vom Bundesverband der Deutschen Weinkellereien und des Weinfachhandels e.V. „mit einem lachenden und einem weinenden Auge“, wie er sagt.

Die Weinkellereien, die den Einzelhandel beliefern, hätten gut zu tun. Doch diejenigen, die sich auf die Belieferung für Kreuzfahrtschiffe, als Zulieferer für Fluggesellschaften wie der Lufthansa, auf Hotels oder den Großhandel spezialisiert hätten, kämpften nun mit großen Problemen und teilweise sogar ums Überleben. Auch Rotthaus betont, dass der gestiegene Absatz beim Wein nicht bedeute, „dass die Leute nun hemmungslos saufen“. Stattdessen habe sich die Stelle, „wo man den Konsum ausübt, nämlich von der Kneipe oder dem Restaurant nach Hause verschoben“, erklärt er. Ein großes Problem für viele Kellereien sei auch der Export. „Schon mit dem Brexit ist absehbar, dass Umsatz verloren geht. Wenn nun durch Corona der Export wegfällt, sieht es noch schlechter aus.“

Einen großen Boom hingegen erlebt der eCommerce-Handel mit Wein. Diejenigen Händler, die einen guten Webshop haben, verkaufen online offenbar so viel Wein wie nie.

Das Direktkundengeschäft habe extrem zugelegt, weiß Ernst Büscher, Sprecher des Deutschen Weininstituts. Vor allem bei den Flaschen im Preissegment bis zu zehn Euro hätten sich die Bestellungen verdoppelt. Auch die Produzenten von Verpackungskartons für den Weinverband spürten den Trend und seien am Limit, heißt es auf einer Weinexperten-Plattform.

Ob wir nun in Isolation mehr Alkohol trinken oder uns „die Krise schön trinken“, wie einer der vielen Twitter-User vermutet, verraten die Zahlen nicht. Die Bundesdrogenbeauftragte Daniela Ludwig (CSU) gibt aber zu bedenken, dass die Corona-Pandemie besonders auf Suchtgefährdete und Suchtkranke einen verstärkten Einfluss haben kann.

Und was die Isolation psychologisch mit den Menschen macht, ist ohnehin noch nicht abzusehen.

„Alkohol ist das Drahtseil, auf dem du stehst, Alkohol ist das Schiff, mit dem du untergehst“, endet der Grönemeyer-Song.

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