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Die Flaggen an der Wilmersdorfer Paula-Fürst-Schule hängen auf Halbmast - wie schon nach dem Anschlag in Nizza.

© Susanne Vieth-Entus

Berliner Schüler und das Nizza-Trauma: "Bei bestimmten Geräuschen kommt die Panik zurück"

Berliner Schüler leiden noch immer unter der Traumatisierung von Nizza. Wie Schulen mit dem neuen Anschlag umgehen.

Die Flaggen hängen wieder auf Halbmast. Fünf Monate nach dem Attentat von Nizza sieht es an der Wilmersdorfer Paula-Fürst-Schule wieder so aus wie damals – als zwei Schülerinnen und eine Lehrerin der Schule zu betrauern waren. Und wie damals will keiner reden. Nur so viel: Natürlich wurde im Unterricht über den Anschlag auf den Weihnachtsmarkt gesprochen. Alles sei wieder präsent, sagen die Schüler. Und dann möchten sie schnell weitergehen.

Zehn Berliner Schulen waren damals gerade auf Klassen- oder Kursfahrt in Nizza und hielten sich teilweise auf der Promenade bei dem Feuerwerk auf, als der Anschlag passierte. Viele haben in irgendeiner Form mit der Traumatisierung zu kämpfen. „Einige Schüler sind noch immer in therapeutischer Behandlung“, berichtet einer der betroffenen Schulleiter. Er ist froh darüber, dass der schulpsychologische Dienst der Bildungsverwaltung und die Hotline der Unfallkasse Berlin ihnen bis heute helfen, das Geschehen zu verarbeiten.

„Wir leben jetzt bewusster“

„Bei bestimmten Geräuschen kommt die Panik zurück“, sagt eine Schülerin, die das Attentat direkt miterlebt hat. Die Angst bleibe wie eine Verletzung, die immer Narben hinterlasse; Narben, die unter Umständen wieder aufreißen könnten. Wenn sie heute an den 14. Juli zurückdenkt, weiß sie, dass sie damals Schreie, Rufe und Schüsse hörte, sie sieht die Dämmerung und erinnert sich an das lange Warten in der Deckung, die sie gefunden hatte. Heute spürt sie vor allem die Dankbarkeit darüber, dass sie überlebt hat: „Wir leben jetzt bewusster.“

Jede der zehn Schulen hat ihre eigene Form des Erinnerns gefunden. Auch bei den Weihnachtsfeiern spielte der Anschlag von Nizza eine Rolle. Wolfgang Gerhardt, der Leiter des Albert-Einstein-Gymnasiums in Britz, hat in seiner Rede vor dem Weihnachtskonzert das Geschehen thematisiert, denn auch von seiner Schule waren Schüler und Lehrer in Nizza dabei. „Die Verunsicherung ist allenthalben zu spüren und beeinträchtigt die Jugendlichen in ihrer Welt“, sagt er.

Wie präsent die Ereignisse für die Betroffenen noch sind, wissen auch die Psychologen der Unfallkasse. Sie hatten nach dem Anschlag von Nizza in Absprache mit der Bildungsverwaltung eine Hotline geschaltet, die noch immer frequentiert wird. Seit damals hätten sich 75 Mal Betroffene gemeldet, teilte die Unfallkasse auf Anfrage mit. Da die Psychologen befürchtet hatten, dass die Silvesterknallerei den Traumatisierten neue Probleme bereiten könnte, hatte die Unfallkasse bereits vor dem Anschlag am Breitscheidplatz beschlossen, die Sprechzeiten der Hotline wieder auszuweiten.

„Es ist nicht ausgeschlossen, dass das furchtbare Ereignis auf dem Weihnachtsmarkt bei den Schülerinnen und Schülern sowie Lehrkräften, die vom Nizza-Attentat betroffen waren, die Erlebnisse wieder wachruft und erneut zu psychischen Belastungsreaktionen führt“, mahnte auch Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) am Dienstag. Darum sei sie froh darüber, dass die Unfallkasse die Sprechzeiten aufrechterhalte. Zudem seien auch aktuell die Berliner Schulpsychologen im Einsatz, „um dabei zu helfen, Erlebtes zu verarbeiten“.

Redebedarf haben aber nicht nur die Betroffenen von Nizza, sondern auch viele Kinder und Jugendliche, die jetzt mehr oder weniger direkt den Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt miterlebten oder mit den diffusen Informationen umgehen müssen. Einige Schüler waren nach Tagesspiegel-Informationen sogar dabei, als der Lkw in die Buden und in die Menschenmenge raste. Die Bildungsverwaltung hatte den Lehrkräften dazu geraten, die Vorgänge im Unterricht „altersangemessen“ zu thematisieren.

Etwas anderes gilt für die sehr jungen Schüler. „Meine Erstklässler haben den Anschlag nicht erwähnt, und man merkte, dass sie davon gar nichts wussten“, berichtete eine Kreuzberger Lehrerin aus dem Unterricht am Dienstag. Daher habe sie sich entschieden, nichts zu erwähnen: Da die Kinder noch nicht lesen könnten, sei die Gefahr auch geringer, dass sie in den sozialen Netzwerken etwas mitbekämen. Aber möglicherweise hätten andere Erstklässler etwas erfahren, weil in manchen Familien ständig der Fernseher laufe.

Wie man mit Kindern sprechen soll

„Wir wissen seit den Anschlägen von Paris, dass die Kinder ab etwa dritter Klasse in der Regel informiert sind“, sagt Gunnar Hermann, Direktor der Evangelischen Schule in Pankow. Es gelte, mit Fingerspitzengefühl die Fragen und Ängste aufzunehmen. Für alle Schüler ab Klasse 3 gab es am Dienstagmorgen eine Andacht. Im Mittelpunkt stand das evangelische Adventslied „Die Nacht ist vorgedrungen“ von Jochen Klepper.

„Reden Sie über Ängste und Eindrücke, aber möglichst ohne Emotionalität“, rät Christian Lüdke, der als klinischer Hypnosetherapeut und Traumatologe Opfer und Angehörige vieler Anschläge betreut hat. Kinder sollten in dieser Situation nicht merken, ob Eltern sehr wütend oder ängstlich sind. „Man sollte sachlich mit ihnen reden, knappe, klare Informationen. Die Eltern sind stabile Personen für Kinder, dieses Gefühl sollte nicht erschüttert werden“, hält Lüdke für wichtig.

Anders als bei den Anschlägen von Paris oder Nizza können Eltern sich jetzt allerdings nicht mehr ihren Kindern gegenüber darauf zurückziehen, dass die Gefahr weit weg sei. Müsste die Gefahr einer Verängstigung der Kinder damit nicht unweigerlich steigen? Nein, findet Lüdke: „Sie können sagen, das ist jetzt an diesem Ort dort passiert, aber hier bei uns, in deiner Kita, in deiner Schule, in deinem Fußball-Verein, wird das nicht passieren“, empfiehlt der Traumaexperte, der auch nach den Anschlägen in New York Familien psychologisch begleitet hatte.

Als „Notlüge“ empfindet er es nicht, wenn man den Kindern sagt, dass sie nicht in Gefahr sind, sondern als „eine Zwischenform der Wahrheit, denn alles andere würde Panik schüren. Wenn Kinder in Berlin leben und nicht am Breitscheidplatz waren, dann ist das für sie genauso weit weg wie Paris oder Nizza“, lautet Lüdkes Einschätzung.

Die Hotline der Unfallkasse ist telefonisch täglich von 9 bis 17 Uhr unter 030 / 76 24 11 55 für die Angehörigen der betroffenen zehn Schulen erreichbar.

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