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Stefan Butt ist der Archivar vom Böhmischen Dorf in Rixdorf.

© Madlen Haarbach/Tagesspiegel

Das Böhmische Dorf in Berlin-Neukölln: Wie Stefan Butt zum Archivar der Böhmischen Flüchtlinge wurde

„Ich bin der Anfang vom Ende“, sagt Butt über seine Arbeit im historischen Dorf. Noch heute leben hier Nachkommen der Glaubensflüchtlinge, die im 18. Jahrhundert ins heutige Neukölln kamen.

Zwischen Richardstraße und Kirchgasse leben heute noch die Nachfahr:innen jener Menschen, die Böhmisch-Rixdorf einst seinen Namen gaben. Die Geschichten der evangelischen Glaubensflüchtlinge, die im 18. Jahrhundert aus dem damaligen Böhmen ins heutige Neukölln kamen, bewahrt Stefan Butt.

Er sagt: „Ich bin der Anfang vom Ende: Der erste Nicht-Böhme, der das Erbe verwaltet.“ Seit zehn Jahren ist Stefan Butt der Archivar vom Böhmischen Dorf. Er betreut das umfangreiche Dokumentenarchiv, alte Fotografien und Dia-Aufnahmen und kann zu jedem Haus und jeder Familie im Kiez eine Geschichte erzählen.

Der große, schlaksige Mann im braunen Cordsakko wirkt selbst fast aus der Zeit gefallen, wenn er durch die historischen Höfe und Gärten zum Gottesacker, dem alten Friedhof, führt.

Nach Rixdorf kam Butt eher zufällig. Der studierte Designer war lange Freiberufler und kam dann über eine Maßnahme des Arbeitsamtes zur Evangelischen Brüdergemeinde. „Die wollten mich eigentlich gar nicht haben“, erzählt Butt und lacht. Er sei dann aber hartnäckig geblieben.

Wie der Zufall es wollte, hatte der damalige Pfarrer der Gemeinde gerade Ärger mit dem historischen Archiv: Das lagerte damals im Keller der Kirche und war über die Jahrzehnte feucht geworden. In einer Art Hauruck-Maßnahme habe der Pfarrer das Archiv geräumt und die Dokumente in die Gästewohnung der Gemeinde bringen lassen.

Dabei habe er auch das ein oder andere Dokument entsorgt, was für Unmut in der Siedlung gesorgt habe. „Glücklicherweise haben Leute die Dinge dann wieder aus dem Müllcontainer herausgeholt“, berichtet Butt. In diese Gemengelage kam nun Butt, der in seinem Leben bislang hauptsächlich in Archiven gearbeitet hatte. „Ich denke, der Pfarrer hat geglaubt, dass mich der liebe Herrgott geschickt hat“, sagt Butt und schmunzelt.

Eine historische Ansicht von Böhmisch-Rixdorf aus dem Jahr 1755.

© privat/Archiv Böhmisches Dorf

Die nächsten zwei Jahre habe er das Archiv dann sortiert, das über viele Jahre keine wirkliche Ordnung gehabt habe. „Da hat sich im Laufe der Jahre jeder mal bedient, der eine hat’s aufgeschrieben und der andere nicht. Manchmal kamen auch Packen zurück, bei denen niemand mehr wusste, wo die eigentlich herausgenommen worden waren“, schildert Butt.

Er entdeckte einmalige Dokumente, wie Lebensläufe der Ankömmlinge aus Böhmen. „Ich glaube, der Gemeinde ist gar nicht klar gewesen, wie einmalig diese Dokumente sind“, sagt Butt. Zwar gebe es unzählige Kolonistendörfer, etwa in Brandenburg. „Aber ich wüsste kein zweites, wo man so genau über die Flucht, die Umstände und die ersten Jahre nach der Flucht Bescheid weiß, wie bei uns.“

Böhmisch-Rixdorf war früher sehr bäuerlich geprägt.

© privat/Archiv Böhmisches Dorf

Als die Maßnahme des Arbeitsamtes auslief, gründete er mit Bewohner:innen der Siedlung den Verein Archiv im Böhmischen Dorf. Das Archiv zog um in das älteste Gebäude im Kiez, die frühere Schule. Dort ist auch das Museum untergebracht.

Finanziert werden das Archiv und Butts Stelle über Spenden, Fördermittel und Einnahmen aus Führungen: Regelmäßig führt der Archivar Interessierte durch das Böhmische Dorf und die umliegenden Straßen, erzählt von der Geschichte der Siedlung und zeigt auch die versteckten Hinterhöfe.

Er sei der einzige, der die Schlüssel zu allen Höfen im Dorf habe, sagt Butt. Das Archiv öffnet er auch für Schulklassen und Uni-Projekte: So würden etwa regelmäßig Studierende und Doktorand:innen die alten Dokumente für ihre Forschung nutzen.I

Im gleichen Gebäude wie das Archiv befindet sich auch das Museum im Böhmischen Dorf.

© Madlen Haarbach/Tagesspiegel

Gleichzeitig ist Butt so etwas wie der oberste Bewahrer der Dorfgeschichte: Er kämpfte dafür, dass der sogenannte Gottesacker, der alte böhmische Friedhof in der Kirchhofstraße, unter Denkmalschutz gestellt und damit für die Zukunft bewahrt wird. „Das hat nicht allen in der Nachbarschaft gefallen“, sagt Butt.

Er ließ Verstorbene aus den Weltkriegen umbetten, sodass die Kriegsgräber heute am Ende des Friedhofes in einer Reihe angeordnet sind. Alte Grabsteine, die er für bewahrenswert hält, lässt er an der Wand des Friedhofes aufhängen.

Auch an den Gräbern lasse sich viel Geschichte erzählen, sagt er. Da ist etwa der Industrielle, der in der Villa Rixdorf lebte und kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges mit seiner gesamten Familie Suizid beging.

Oder „Tante Toni“, die bis in die 1940er Jahre die Kinder aus der Siedlung in der sogenannten Spielschule – wohl so etwas wie der erste Kindergarten – betreute. „Tante Toni ist seit 70 Jahren tot und trotzdem kennt jeder im Dorf ihren Namen – das muss eine ganz tolle Frau gewesen sein“, sagt Butt.

Bauern bei der Arbeit in einer der Scheunen, die oft bis heute erhalten sind.

© privat/Archiv Böhmisches Dorf

Allerdings steht Butt vor einem großen Problem: Die Nachfahren der böhmischen Flüchtlinge werden immer weniger. Viele Familien würden die Höfe nach und nach aufgeben, sei es wegen komplizierter Erbfälle, finanziellem Druck oder weil die Kinder die Stadt verlassen.

Es gebe kaum noch Menschen, die etwa die Personen auf alten Fotos identifizieren oder Namen zuordnen könnten. „In der Gemeinde sprechen wir mittlerweile von einem Traditionsbruch“, sagt Butt. Die Generation, die das Erbe und auch den Glauben noch intensiv gepflegt habe, sei über die vergangenen Jahre weggestorben.

„Eigentlich ist der Archivar immer zu spät“, sagt Butt. Dennoch betont er: „Ich habe hier eigentlich mein Hobby zum Beruf gemacht und hoffe, dass ich hier wirklich etwas für die nächsten Generationen hinterlasse.“

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