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Blick auf den zweiten Bahnhof in Zehlendorf, der seit 1980 gesperrt ist. Seitdem passiert dort nichts, er wird offenbar nur als Werbefläche benötigt. Früher fuhr hier die Stammbahn, die diesen Namen bekam, weil sie anno 1838 als erste Bahn-Verbindung in Preußen eröffnet worden ist, und zwar zwischen dem Potsdamer Bahnhof in Berlin und Potsdam. Seit 1874 zweigt vom Bahnhof Zehlendorf die Wannsee-Bahn ab, die 1933 elektrifiziert und damit zur S-Bahn wurde.

© Robert Burda

Politik und Bahn lassen zweiten Bahnhof Zehlendorf verrotten: Zehlendorf wartet auf die Rattenherrschaft

Über den zweiten Ausgang am S-Bahnhof Zehlendorf wird gestritten, aber wer redet über den zweiten Bahnhof, der seit Jahren verrottet? Brigitte Grunert hat für den Zehlendorf Blog recherchiert. Das Ergebnis ist zum Piepen!

Über den richtigen Platz für einen zweiten Zugang zum S-Bahnhof Zehlendorf wird lebhaft gestritten, der Zehlendorf Blog hat ausführlich darüber berichtet, über den seit nunmehr 33 Jahren tot gelegten und verfallenden zweiten Bahnsteig beredt geschwiegen, als gäbe es ihn gar nicht. Was daraus werden soll, wissen die Götter. Abwarten, heißt es bei der S-Bahn und beim Senat. Na fabelhaft, was Verkehrsplaner alles dürfen. Unvorstellbar, dass unsereiner zum Beispiel ausrangierte Möbel auf die Straße stellt und abwartet, bis sie verrottet sind.

Das Bild ist gespenstisch: baufällige Holzbänke, marode Wartehäuschen, geborstene Fensterscheiben, reichlich Graffiti, undichte Regenrinnen, wucherndes Unkraut und Gesträuch. Ein Gleis ist seit einer halben Ewigkeit verschwunden, aus dem Schotterbett wachsen Linden- und Ahornbäume. Na und? Der Bahnsteig ist seit 1980 gesperrt, der „Verkehrsicherungspflicht“ der Bahn Genüge getan. Von weitem sind Aushänge aus der Zeit, als die S-Bahn West in der Regie der DDR-Reichsbahn fuhr, zu erkennen, auch ein Berliner Stadtplan.  Nur für Reklame ist der alte Bahnsteig gut genug. Im Kontrast zum Verfall glänzen wechselnde Großplakate, auf denen für alles Mögliche geworben wird. Der Clou war neulich die Werbung einer Gartenbaufirma: "Berlin blüht auf!" Es war direkt zum Piepen.

Lange her, dass die Stammbahn hier hielt. Ihren Namen hat sie, weil sie anno 1838 als erste Bahn-Verbindung in Preußen eröffnet worden ist, und zwar zwischen dem Potsdamer Bahnhof in Berlin und Potsdam. Seit 1874 zweigt vom Bahnhof Zehlendorf die Wannsee-Bahn ab, die 1933 elektrifiziert und damit zur S-Bahn wurde. Ab 1903 verkehrten auf der Wannseebahn auch die „Bankierszüge“, die von Zehlendorf bis Potsdamer  Bahnhof in Berlin ohne Halt durchfuhren. Das war komfortabel für Großbürger, die in den Villenkolonien in Wannsee, Schlachtensee oder Nikolassee wohnten und in Berlin ihren Geschäften nachgingen.

Die Stammbahn existiert so nicht mehr. Nach dem Krieg ließ die sowjetische Besatzungsmacht einen Teil der Gleise als Reparationsleistung an die UdSSR demontieren. Sie hatte die Betriebshoheit für den Bahn-Verkehr inklusive S-Bahn in ganz Berlin und überließ die Betriebsbefugnis der Reichsbahn. Nur zwischen Zehlendorf und Düppel an der Grenze zu Kleinmachnow pendelte ein Dampfzug, seit 1948 die S-Bahn. 1980 stellte die DDR-Reichsbahn mehrere S-Bahn-Linien West ein, auch die Wannseebahn und die Strecke Zehlendorf – Düppel, denn durch den S-Bahn-Boykott der West-Berliner nach dem Mauerbau war die S-Bahn für die DDR ein chronisch defizitäres Geschäft.

Die Bahnhöfe Zehlendorf Süd und Düppel gibt es nicht mehr, sie sind nur noch auf älteren Stadtplänen verzeichnet. Wer nach Überresten sucht, findet nichts. Die alten Schienen, soweit vorhanden, sind im Dickicht verborgen, wo-möglich ist es bald eine Aufgabe für Archäologen, sie auszugraben. Wie zum Hohn trifft man auf verwitterte Warnschilder: "Betreten der Bahnanlagen verboten!" Da habe ich neulich zur Erinnerung an das morbide Bild einen Schotterstein geklaut. Warum, fragt man sich, wird hier weder die Wiederbelebung noch die Beseitigung angepackt? Die Geschichte von Buridans Esel fällt mir ein, der vor  zwei Heuhaufen verhungerte, weil er sich nicht entscheiden konnte, von welchem er fressen sollte.

Die Reaktivierung der S-Bahn von Zehlendorf nach Düppel oder bis Kleinmachnow oder sogar über Dreilinden bis Potsdam sei „momentan vom Tisch“, sagte mir die Deutschen Bahn. „Ein paar hundert Millionen Euro“ würde es wohl kosten, das Geld werde für wichtigere Dinge benötigt. Allerdings könne man die Trasse „nicht einfach aus der Lameng“ beseitigen. Wer weiß, vielleicht werde sie eines Tages wieder gebraucht. Doch darüber müsse "die Politik" entscheiden. Von einem „derzeitigen Schwebezustand“ ist die Rede. Nach der Übernahme der West-Berliner S-Bahn-Strecken von der Reichsbahn der DDR 1984 blieb die Stummel-Strecke geschlossen. Seit der deutschen Einheit gab es dann Untersuchungen und Berechnungen für verschiedene Varianten der Wiederbelebung des S-Bahn-Betriebs von Zehlendorf bis Düppel und  Kleinmachnow oder Potsdam.

Doch es tut sich nichts. Bei der Senatsverwaltung für Verkehr bezeichnet die Pressesprecherin Daniela Augenstein die Reaktivierung als "langfristige Maßnahme nach 2025", festgehalten im Berliner Stadtentwicklungsplan Verkehr.  Folgt der Hinweis, dass das Nachbarland von der Idee abgerückt ist und dort im Landesverkehrplan (bis 2017) keine Verlängerungen der S-Bahn ins Berliner Umland mehr vorgesehen sind. "Der Senat sieht aber keinen volkswirtschaftlichen Nutzen, wenn die S-Bahn nicht über die Stadtgrenze hinausfährt". Mit anderen Worten: Es rechnet sich nicht, wenn Brandenburg nicht mitmacht.

Ob das das letzte Wort ist? Man weiß es nicht. Die Trasse soll jedenfalls für den Fall der Fälle erhalten bleiben. „Berlin wächst“, heißt es. Bloß kein Abriss, der würde die Bahn ebenfalls eine Menge Geld kosten. Es ist nicht die einzige Bahn-Trasse, die brach liegt und im Wildwuchs erstickt. Also die Bahn versteckt sich hinter "der Politik". Die entscheide, "die Bahn liefert den Verkehr der bestellt wird". Der Senat versteckt sich hinter der Bahn, auf deren Eigentum "wir keinen Zugriff haben". So dreht sich alles im Kreise, kein klares Wort, keine Lösung. Beide Seiten geben allenfalls zu, dass "der Zustand unbefriedigend ist". Das habe mit dem "komplexen Problem" zu tun. Für den maroden Zehlendorfer Bahnsteig interessiert sich offenbar niemand. Augen zu und abwarten!

Man dürfe die S-Bahn nicht der "Rattenherrschaft" überlassen, sprach Richard von Weizsäcker 1981 vor seiner Wahl zum Regierenden Bürgermeister. Da war er sich mit seinem kurzzeitigen Vorgänger Hans-Jochen Vogel einig, der ruckzuck die Ost-West-Verhandlungen zur Übernahme der S-Bahn vorbereitete. Es ging dann sehr zügig. Ich habe zwar auf dem toten Bahnsteig noch keine Ratten gesehen, aber wer weiß.

Brigitte Grunert war langjährige landespolitische Chef-Korrespondentin des Tagesspiegels. Der Text erscheint auf dem Zehlendorf Blog, dem Online-Magazin des Tagesspiegels.

 

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