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Seit Januar ist die neue Baureihe 483/484 der S-Bahn im Einsatz. 

© Jörn Hasselmann

Exklusiv

Milliardenschweres Projekt in Berlin: Alstom zieht sich womöglich aus S-Bahn-Ausschreibung zurück

Alstom ist der größte Konkurrent der Bahn bei der S-Bahn-Ausschreibung. Jetzt überlegt der französische Konzern aufzugeben. Es gibt Kritik am Vergabeverfahren.

Seit neun Monaten läuft das Vergabeverfahren für die Berliner S-Bahn, es geht um bis zu elf Milliarden Euro. Berlin will mit dieser Ausschreibung das Monopol der Deutschen Bahn brechen – aber das könnte scheitern.

Nach Informationen des Tagesspiegels erwägt der französische Großkonzern Alstom, sich aus dem Bieterverfahren zurückzuziehen. Übrig bliebe dann nur die Deutsche Bahn, also der alte Monopolist. Das könnte den Preis hochtreiben, in der Verkehrsverwaltung ist die Sorge nun groß.

Der französische Konzern ist der einzige echte Konkurrent der Bahn, rechnet sich aber kaum noch Chancen aus – weil die Bahn im Verfahren bevorteilt werde, heißt es von Kennern der Ausschreibung.

Für die Ausschreibung haben sich zwei Konsortien gebildet: Deutsche Bahn, Siemens und Stadler auf der einen sowie Alstom und Transdev auf der anderen Seite. Hersteller von Zügen und Betreiber haben sich jeweils zusammengeschlossen. Offen ist, ob und wie sich chinesische Firmen an der Ausschreibung beteiligen. Ein erstes Angebot muss bis zum 24. August abgegeben werden, der Zuschlag soll im Oktober 2022 erteilt werden, so der aktuelle Zeitplan.

Die Vergabe per Wettbewerb war ein Herzensprojekt der grünen Verkehrssenatorin Regine Günther. Zwei Hauptargumente gab es für die 2018 mit einer „Markterkundung“ gestartete Ausschreibung von zwei Dritteln des Berliner S-Bahn-Netzes. Die Deutsche Bahn ist teuer und hatte ihre S-Bahn-Tochter 2009 mit einem völlig übertriebenen Sparprogramm in die Dauerkrise manövriert. Derzeit wird intern verhandelt, ob die Ausschreibungsbedingungen noch geändert werden können, hieß es. Um Bedenken der Bevorzugung zu beseitigen.

2,92 Milliarden für 1308 neue Wagen

Alle Beteiligten verweigerten auf Nachfrage eine Stellungnahme, da größte Geheimhaltung vereinbart ist. Der Sprecher der Verkehrssenatorin sagte, man werde sich „nicht zum laufenden Verfahren äußern“. „Das Vergabekonzept sichert einen wirksamen, fairen Wettbewerb für Hersteller und Betreiber, der die Qualität erhöht und Kosten senkt“, hatte Verkehrssenatorin Günther 2018 verkündet.

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Es geht um viele Milliarden: Für die beiden Netze „Nord-Süd“ und „Stadtbahn“ werden mindestens 1308 Wagen benötigt. Laut Verkehrsverwaltung sollen die neuen Fahrzeuge zwischen 2027 und 2034 geliefert werden, sie gehen in das Eigentum des Landes Berlin über. Die Anschaffung soll 2,92 Milliarden Euro kosten. Hinzu kommen vier Milliarden für Betrieb und Instandhaltung. Da es eine Option auf 852 weitere Wagen gibt, summiert sich alles auf elf Milliarden Euro.

Am Montag vor zwei Wochen fiel nun eine Entscheidung, die bei der Bahn Jubel und bei Alstom Entsetzen auslöste: Der geheim tagende „Lenkungskreis“ entschied nach Informationen des Tagesspiegels, dass es bei der Stromspannung von 750 Volt bleibt, mit der die S-Bahn seit Jahrzehnten fährt. 1500 Volt wären im Betrieb deutlich wirtschaftlicher, deshalb ist um die Frage so lange gerungen worden.

Für die Bahn ist es ein Vorteil, denn das Konsortium Siemens/Stadler muss seine neueste Baureihe 483/484 nicht umkonstruieren und spart viel Geld. Experten schätzen diese auf eine halbe Milliarde Euro.

Schon 2015 war das erste S-Bahn-Teilnetz („Ring/Südost“) ohne echten Wettbewerb wieder an die Deutsche Bahn vergeben worden. Der Preis für jeden gefahrenen Zugkilometer stieg dabei von 10,67 Euro auf 15,66 Euro, ein Plus von fast 50 Prozent.

Branchenkenner halten den Preis für stark überhöht, in anderen Städten werde für weniger als zehn Euro gefahren. Die FDP hatte die Vergabe damals ein „bundesweit absolutes Negativbeispiel“ genannt und kritisiert, dass andere Anbieter bei der Vergabe faktisch ausgeschlossen worden seien.

Für dieses Netz hat die Bahn 382 Waggons bestellt, die ersten Züge fahren bereits auf der Linie S47. Experten erwarten, dass das Bahn-Konsortium in der laufenden Ausschreibung den Typ 483/484 anbieten wird und damit Entwicklungskosten spart. Deshalb liegt beim französischen Konzern Alstom nun das Szenario „Ausstieg“ auf dem Tisch.

Insider schätzen die Chancen der Franzosen in der S-Bahn-Ausschreibung auf etwa 20 Prozent – zu wenig. Auch Alstom müsse sich überlegen, womit Ingenieure und Kaufleute beschäftigt werden. Die Berliner Ausschreibung würde 200 Fachleute zwei Jahre binden. Die könnten in dieser Zeit zehn kleinere Ausschreibungen machen, von denen die Hälfte erfahrungsgemäß gewonnen werde, so die Überlegung.

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Der französische Konzern ist der größte europäische Hersteller von Schienenfahrzeugen, weltweit gibt es 75.000 Mitarbeiter, 8000 davon in Deutschland. Im letzten Jahr hatte Alstom den Konkurrenten Bombardier übernommen, der in Hennigsdorf 2500 Mitarbeiter beschäftigt.

Für einen echten Wettbewerb hätte es einer anderen Ausschreibung bedurft, einer so genannten „Loslimitierung“ – dann wären die beiden Netze automatisch an unterschiedliche Bewerber gegangen. Doch mit dem Vorschlag war Günther am wütenden Protest von SPD und Linkspartei gescheitert. Auch das kritisiert Alstom, wie der Tagesspiegel erfuhr.

Vorbild bei eine Loslimitierung ist der Verkehrsverbund Berlin Brandenburg (VBB). Die fünf großen RE-Linien wurden in zwei Paketen ausgeschrieben, die nicht gemeinsam gewonnen werden konnten. Das Ziel war, das Monopol der Bahn zu brechen und Kosten zu senken.

Kritiker fürchten um Stabilität des Betriebs

Eine zweite Lösung wäre die „Pflicht zur Abgabe von Einzelangeboten“, eine komplizierte Bedingung. Dieses Lösungsszenario könnte noch ohne größeren Zeitverlust in den „Verfahrensbrief" aufgenommen werden, hieß es. Doch SPD und Linke lehnen auch das ab, unterstützt von den Gewerkschaften mit der Kampagne „Eine S-Bahn für alle“.

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Die Kritiker befürchten, dass die Stabilität des Betriebs leidet, wenn es einen zweiten Betreiber gibt. Sie lehnen eine „Zerschlagung und Privatisierung“ ab. Hinzu kommt das Engagement der Alstom-Konkurrenten in Berlin. Siemens investiert mit großer Unterstützung durch den Regierenden Bürgermeister Michael Müller (SPD) 600 Millionen in Siemensstadt. Stadler produziert die aktuellen Züge für die U-Bahn und die Baureihe 483/484 in Pankow.

Selbst wenn Alstom billiger anbieten würde, könnte Berlin als Hauptauftraggeber einen „Fehler“ im Angebot suchen – und gewiss auch finden. „Denn Fehler macht jeder“, heißt es. In der Regel wird über Fehler gesprochen – es sei denn, man will eine politische Entscheidung legitimieren. Wie gut Siemens und Stadler vernetzt sind, dürfte der neue Alstom-Chef Müslüm Yakisan wissen: Er war zuvor Jahrzehnte bei Siemens.

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