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Schule: Immer mehr psychische Auffälligkeiten bei Grundschülern

Streichung von Förderklassen, Mangel an Lehrern: Immer mehr Erstklässler kommen in die Psychiatrie. Im Klinikum Westend werden verhaltensauffällige Kinder betreut, die in der Schule gescheitert sind.

Cassandra ist acht, als sie das erste Mal in stationäre psychiatrische Behandlung kommt, im März 2009. In die Schule ist sie zuvor bereits schon länger nicht mehr gegangen. „Das hat einfach nicht geklappt“, sagt die heute Neunjährige, während sie nach unten schaut. Ihre rechte Hand zupft unablässig an ihrem schwarz-rot-goldenen Armband, ihre Füße wippen unruhig auf und ab. An den Wänden grüne Palmen, viele Stofftiere, ein paar Stühle: „Atlantis“ nennen sie den kleinen Raum, er dient als Rückzugsort für die 20 Schüler der Schule am Westend. Sie ist eine staatlich anerkannte Ersatzschule zur Förderung von Kindern und Jugendlichen mit emotionalen und sozialen Entwicklungsstörungen und liegt auf dem Gelände des DRK-Klinikums Westend.

Immer häufiger kommen in die Psychiatrie-Ambulanz des Klinikums Erst-, Zweit- und Drittklässler, die aufgrund von Lernstörungen und sozialen sowie psychischen Auffälligkeiten in der Schule scheitern. Und immer mehr solcher „Problemkinder“ würden produziert, warnen Ärzte, Lehrer und Psychologen. Durch die für viele Kinder zu frühe Einschulung im Alter von fünf Jahren, durch Streichung von Förderklassen, durch Mangel an Lehrern und weiterem pädagogischen Personal. Und auch dadurch, dass, wie in diesem Jahr, zahlreiche der vorgeschriebenen Schuleingangsuntersuchungen in den meisten Bezirken nicht rechtzeitig durchgeführt werden. So können sich die Grundschulen gar nicht rechtzeitig auf einen erhöhten Förderbedarf einstellen. „Vom ersten Schultag an werden viele Kinder in eine Spirale des Scheiterns gebracht. Und das hat enorme und kaum wieder gutzumachende Auswirkungen“, sagt Michael von Aster, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie.

Cassandra besucht die Schule am Westend seit einem knappen Jahr – tagsüber. Abends geht sie wie die anderen Schüler nach Hause. Zu ihrer Mutter, deren neuem Lebenspartner und ihrer um ein Jahr älteren Schwester. Zu ihrem leiblichen Vater hat sie keinen Kontakt. Auch ihre Schwester war bereits in stationärer psychiatrischer Behandlung. „Manchmal versucht sie, sich die Zähne rauszureißen, dann gehe ich weg und spiele im Bett Nintendo DS“, sagt Cassandra. Bei ihrer Aufnahme gilt Cassandra als Kind mit großen Verhaltensauffälligkeiten, sie ist extrem unruhig, aggressiv, weist extreme mathematische Defizite auf und verweigert die schriftliche Mitarbeit. Cassandra selbst erzählt ihre Geschichte so: „Schon im Kindergarten mochte mich niemand. Nie durfte ich irgendwo mitspielen. Dann habe ich die anderen Kinder aus Wut provoziert und wurde geschlagen.“ Ihre Lehrer, sagt Cassandra, hätten nie Zeit und Lust gehabt, mit ihr zu reden. Hier in der Schule am Westend gefällt es ihr, die Lerngruppen sind klein und bei den Matheaufgaben bekommt sie viel Hilfe. „Cassandra singt auch sehr gut“, sagt ihre Lehrerin Pascal von Wroblewsky und streichelt Cassandra nach dem Musikunterricht aufmunternd über die Schulter. Von Wroblewsky ist Jazzsängerin, sie hat schon mit vielen großen Orchestern zusammengearbeitet. „So wie dies keine normale Schule ist, haben wir auch kein normales Kollegium“, sagt Rektorin Kerstin Schicke. Bei Cassandra sei es wie bei vielen anderen ihrer Klassenkameraden. „Wenn viele Probleme zusammenkommen, dann enden viele Kinder in psychiatrischer Behandlung.“ Und je bildungsferner der familiäre Hintergrund sei, umso größer die Wahrscheinlichkeit. Die Kinder würden regelrecht krank, erlebten die Schule nur noch als angstbesetzten Ort. „Bei uns sollen sie wieder lernen, dass es Spaß machen kann, Schüler zu sein“, sagt Schicke. Natürlich sei dafür auch die Mitarbeit der Eltern notwendig: Cassandras Mutter kommt regelmäßig zu Beratungsgesprächen und versucht, die Ratschläge im Alltag mit ihren Töchtern umzusetzen.

„Leider können wir längst nicht alle Fälle aufnehmen, und es werden immer mehr, auch weil das Bewusstsein für die Krankheitsbilder und Auffälligkeiten wächst“, sagt von Aster. Rund 2000 Fälle werden in seiner Ambulanz pro Jahr betreut, vom Kleinkind bis zum 18-jährigen Jugendlichen. Dazu kommen 40 voll- und teilstationäre Plätze, auf denen die Patienten im Durchschnitt sechs Wochen bleiben und in den hellen Klinikräumen zahlreiche Angebote wie Kunst- und Musik, Sport-, Tanz- und Bibliotherapie nutzen können. Für von Aster gibt es mehrere Ursachen für die Zunahme starker Verhaltensauffälligkeiten: „Heute sind fast alle Schulen Orte, wo vor allem eins herrscht: Gewinnerideologie. Es geht nur darum, der Beste zu sein. Und das schafft enorm viele Verlierer“, sagt der 58-Jährige. Den Schulen mangele es außerdem an kompensatorischen Konzepten. Sie müssten den enormen Veränderungen entgegenwirken, denen die Kinder durch massiven Medienkonsum ausgesetzt sind. Dem Nachwuchs fehle häufig die empathische Begleitung durch die Eltern. „Daher brauchen wir dringend eine Didaktik des sozialen Verhaltens und des Mitgefühls“, sagt von Aster. Die Politik dürfe die überforderten Lehrer mit den Problemen nicht allein lassen und müsse Stellen für Sozial-, Sonderpädagogen und Schulpsychologen schaffen. Das von Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD) angekündigte „Qualitätspaket“ werde die wahren Probleme nicht beseitigen.

Und dann ist da die Inklusion. Bei diesem pädagogischen „Zauberwort“ stehen von Aster die Haare zu Berge. „Es hört sich ja toll an, alle Schüler in ein Boot zu setzen. Doch dann muss man auch die nötigen Angebote schaffen, um jeden einzelnen Schüler, auch alle mit Lern- und Entwicklungsproblemen, individuell erreichen zu können“, sagt er. Ansonsten sei das so fleißig beworbene Konzept Inklusion nicht mehr als eine Mogelpackung, um durch die Streichung von Förderklassen sparen zu können.

Cassandra muss spätestens in einem Jahr wieder raus in die harte Wirklichkeit. Ein bisschen Angst hat sie davor. Um den Kindern diesen Schritt zu erleichtern, soll ein begleitender Kontakt zwischen den Schülern und ihren jetzigen Betreuern und den Lehrern der beiden Schulen stattfinden. „Da uns im nächsten Schuljahr erstmals zwei Schüler verlassen, haben wir noch keine Erfahrung, wie gut die Reintegration gelingen kann“, sagt Rektorin Schicke. Cassandra wünscht sich sehr, dass sie dann an ihrer neuen Schule bleiben kann, denn: „Eines Tages möchte ich Tierärztin werden“, sagt sie. Eine Katze zum Schmusen und Spielen hat Cassandra schon.

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