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Eine Frau mit Mund-Nasen-Schutz geht am U-Bahnhof Amrumer Straße in Berlin an einem Graffiti vorbei.

© dpa/Christoph Soeder

Exklusiv

Verkehrsverbund-Chefin über Öffis in der Coronakrise: „Es dürfte nicht mehr viele geben, die sich ohne Maske cool fühlen“

Susanne Henckel erklärt im Interview, warum Jahresabos nicht ruhen können und ohne Finanzspritze die Verkehrswende auf der Strecke bleibt.

Susanne Henckel ist seit 2014 Geschäftsführerin des Verkehrsverbundes Berlin-Brandenburg (VBB). Sie koordiniert die Angebote im öffentlichen Personalnahverkehr für sechs Millionen Berliner und Brandenburger.

Die Autos stauen sich wieder, der Radverkehr boomt, aber Busse und Bahnen sind noch ziemlich leer. Bleibt der ÖPNV der große Verlierer dieser Krise?
Die Nachfrage steigt allmählich wieder – in Berlin und Brandenburg, aber auch bundesweit. Damit sich diese Erholung fortsetzt, müssen wir das Vertrauen der Fahrgäste zurückgewinnen.

Dafür fahren die Verkehrsunternehmen im VBB wieder mit vollem Angebot, sind pünktlich und sicher unterwegs und haben einiges für den Schutz der Fahrgäste und des Personals getan, beispielsweise durch einheitliche Infos und Regeln und durch zentral beschaffte Masken. Die Unternehmen haben in der Krise so eng zusammengearbeitet wie nie zuvor.

Trotzdem hat die Coronakrise die Branche in ein Dilemma gebracht, das kaum lösbar scheint: In leeren Zügen sind die Leute halbwegs sicher, bei Gedränge wird jede Bahn ein potentieller Infektionsherd.
Es gab in Deutschland bisher keine einzige Corona-Infektion, die nachweislich im ÖPNV passiert ist – anders als etwa in Clubs oder Restaurants. Mit den Abstandsregeln und der Pflicht, Mund und Nase zu bedecken, sind wir auf gutem Weg, aber wir müssen beim Thema Platz neu nachdenken: Wie schaffen wir es, dass Busse und Bahnen keine Sardinenbüchsen mehr sind?

"Wir müssen Vertrauen zurückgewinnen": Susanne Henkel spricht im Interview über die neue Situation des Öffentlichen Nahverkehrs in Berlin.
"Wir müssen Vertrauen zurückgewinnen": Susanne Henkel spricht im Interview über die neue Situation des Öffentlichen Nahverkehrs in Berlin.

© Doris Spiekermann-Klaas/TSP

Das kann gelingen, indem wir die Auslastungsspitzen abflachen. Dazu brauchen wir Partner, damit beispielsweise nicht alle Schulen morgens um acht anfangen. Flexible Schichtsysteme bei den großen Arbeitgebern würden ebenso helfen wie Homeoffice-Regelungen im öffentlichen Dienst. Wir führen dazu zurzeit viele Gespräche.

Können Sie schon abschätzen, wie viel Geld den Verkehrsunternehmen in Berlin und Brandenburg in diesem Jahr fehlt?
Unsere 38 Mitgliedsunternehmen haben 2019 zusammen etwa 1,5 Milliarden Euro aus dem Ticketverkauf eingenommen. Davon werden uns in diesem Jahr mindestens 600 Millionen fehlen. Wir diskutieren an verschiedenen Stellen, wie wir diese Einnahmeausfälle ausgeglichen bekommen.

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Also – wie? Als Präsidentin der „Bundesarbeitsgemeinschaft der Aufgabenträger des Schienenpersonennahverkehrs“ müssten Sie ja nahe dran sein an der großen Politik.
Wir haben mit der gesamten ÖPNV-Branche, also den Verbänden, den großen Verkehrsunternehmen und -verbünden in den vergangenen Wochen einen großen Rettungsschirm aufgesetzt – und zwar in dem Sinne, dass die Bundesregierung die Einnahmeausfälle der Verkehrsunternehmen ausgleicht.

Das klingt einfach, ist aber wegen der sehr unterschiedlichen regionalen Konstrukte sehr kompliziert. Nachdem wir den rechtlichen Rahmen geklärt haben, muss jetzt der Bund bei der EU ein Notifizierungsverfahren starten, damit er die Ausfälle erstatten darf. Wir brauchen Entscheidungen möglichst schon bis Pfingsten.

Und sonst?
Sonst droht die Gefahr, dass Verkehrsunternehmen und damit auch das Angebot auf der Strecke bleiben. Es wird konkret um Abbestellungen von Verbindungen gehen.

Sind Sie der Bundesregierung ähnlich viel wert wie die Lufthansa und die Autokonzerne?
Die Verkehrsminister aller 16 Länder haben die Bundesregierung zur Unterstützung dieses Rettungsschirms aufgefordert – und das Verkehrsministerium scheint sehr aufgeschlossen für dieses Begehren. Es hat allerdings noch einen anderen Antrag auf der Agenda, nämlich den der Deutschen Bahn.

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Die Milliarden, mit denen der Bund dem Staatskonzern hilft, fehlen dann womöglich dessen Wettbewerbern, also auch Mitgliedsunternehmen des VBB. Aber ohne Hilfe können wir unseren Auftrag, nämlich den von den Koalitionen sowohl im Bund als auch im Land vereinbarten Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, nicht länger erfüllen.

Ihre treuesten Kunden sind die Hunderttausenden Abonnenten. Die zahlen weiter viel Geld für Ihre Tickets, die sie aber zu ihrer und zur allgemeinen Sicherheit über Monate kaum nutzen. Erstattungen lehnt der VBB ab. Bleiben Sie bei dieser Null-Kulanz-Politik?
Null Kulanz stimmt so nicht: Wir akzeptieren angeordnete Quarantäne als Krankheitsfall und wir haben die Gültigkeit der Semestertickets kulant verlängert. Fakt ist, dass die Verkehrsunternehmen momentan jeden Euro dringend brauchen. Deshalb sind wir sehr froh, dass sich die Zahl der Kündigungen in engen Grenzen hält. Unsere besten Kunden erweisen sich als sehr solidarisch.

In Hamburg können die Stammkunden ihre Abos ruhen lassen. Es geht also, wenn der Verkehrsverbund will.
Die Hamburger Regelung ist die einzige dieser Art in ganz Deutschland. Überall sonst hat man sich darauf geeinigt, dass uns die Stammkunden helfen, die aktuelle Situation zu überstehen. Aber wir werden mit unseren Mitgliedsunternehmen beraten, wie wir unseren besten Kunden entgegenkommen können, wenn sie jetzt durchhalten. Das Thema ist präsent und vorläufig kalkuliert, aber momentan hat niemand die finanziellen Mittel, um den Verkehrsunternehmen das auszugleichen.

Das VBB-Abo 65 Plus ist ein Sonderfall: Es kann nur fürs ganze Jahr abgeschlossen werden – und es adressiert die Hauptrisikogruppe, nämlich die Senioren. Was sagen Sie denen, die Anfang des Jahres ein solches Abo abgeschlossen haben und das jetzt bereuen?
Das Abo 65 Plus ist auch wegen der damit verbundenen Vergünstigungen enorm beliebt. Was Corona angeht, haben die älteren Kunden keineswegs nur Nachteile: Als Ruheständler sind sie zeitlich oft flexibler, müssen also nicht unbedingt zur Stoßzeit fahren, und sie müssen nicht um ihre berufliche Existenz fürchten.

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Nach meinem Eindruck akzeptieren das die allermeisten. Hier prallen unterschiedliche Interessen aufeinander, die wir abwägen. Die jährliche Kündigungsregel haben die Verkehrsunternehmen nun mal vereinbart – wir beraten und evaluieren immer wieder, aber jetzt gerade beabsichtigen wir nicht, sie zu ändern.

Mit dem Infrastrukturprogramm i2030 soll der Nahverkehr in und um Berlin endlich an die über Jahre gewachsene Nachfrage angepasst werden. Können Sie von diesem Milliardenprogramm angesichts der katastrophalen Steuerausfälle irgendetwas entbehren?
Auf keinen Fall! Wir haben lange genug an Bussen und Bahnen gespart, um zu wissen, wie sehr ein kurzfristiger Sparerfolg sich auf lange Sicht rächt. Wenn wir wie verabredet die Fahrgastzahlen bis 2030 verdoppeln wollen, müssen wir jetzt in die dafür nötige Infrastruktur investieren.

Das Geld dafür brauchen wir überwiegend erst in den nächsten Jahren. Wir kommen auf Dauer nicht ohne S-Bahn-Verlängerungen, mehr Überholgleise und längere Bahnsteige aus. Es geht hier um die Lebensqualität für die Metropolregion Berlin-Brandenburg in den nächsten Jahrzehnten.

Glücklicherweise stellt bisher niemand den Wert eines starken Umweltverbundes für die Allgemeinheit infrage. Im Übrigen: Mobilität ist ein Grundrecht – und dem kommt der ÖPNV nach. Er ist alternativlos, um die Verkehrswende zu erreichen.

Und wenn der Finanzsenator Sie auffordert, ihm angesichts der neuen Steuerschätzung mal Einsparpotentiale zu benennen?
Dann sage ich ihm, dass ich leider keine sehe. Ich werde ihm sagen, dass wir hart daran arbeiten, möglichst gut aus der Krise zu kommen, also mit mehr Komfort durch intelligentere Verteilung des Andrangs. Perspektivisch können auch die Vertriebskosten geringfügig sinken, wenn mehr Tickets online gekauft werden.

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Aber am Verkehr sparen? Nein! Denken Sie an die Verkehrs- und Klimawende und an deren gesellschaftsübergreifenden Zuspruch. Die sind nun nicht abgehakt. Im Gegenteil, die Krise zeigt, dass wir mehr denn je einen funktionierenden ÖPNV brauchen und dringend den Umstieg vom Auto auf Bus und Bahn.

In Berliner Bussen und Bahnen gilt Maskenpflicht, aber wer keine trägt, muss keine Strafe fürchten. Diese Regelung erinnert an das altbekannte Berliner Laissez- faire. Bewährt sie sich?
Die allermeisten halten sich daran. Ich habe selbst schon erlebt, wie Fahrgäste ohne Maske von anderen angesprochen wurden. Und auch, dass ein S-Bahnfahrer die Bundespolizei gerufen hat wegen zweier Fahrgäste ohne Maske.

Aber öffentliche Verkehrsmittel werden durch massive Polizeipräsenz und Strafandrohungen nicht angenehmer. Ich setze eher auf soziale Kontrolle: Es dürfte nicht mehr viele geben, die sich ohne Maske cool fühlen.

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