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"Wer Wege sät, wird Verkehr ernten", sagt Felix Weisbrich, hier auf dem Gelände vom Gartenrevier im Viktoriapark.

© Kitty Kleist-Heinrich

Verkehrswende in Berlin durch Corona: Der Mann hinter den Pop-Up-Radwegen

Binnen weniger Wochen schafft Friedrichshain-Kreuzberg viel Platz für Fußgänger und Radfahrer. Warum geht es dort auf einmal so schnell?

Felix Weisbrich hatte nicht vor, berühmt zu werden, aber es lässt sich gerade kaum vermeiden. Weil er binnen eines Monats vollbringt, was sonst in Berlin über Jahre nicht gelingt: ein Netz aus zwei bis drei Meter breiten, sicher befahrbaren Radwegen zu knüpfen. Grobmaschig erst mal, aber immerhin: Auf die Premiere am Halleschen Ufer folgten Tempelhofer Ufer, Skalitzer und Gitschiner Straße, Lichtenberger und Petersburger Straße sowie gerade erst in dieser Woche der Kottbusser Damm

Dort rückte eine Hundertschaft orange leuchtender Warnwestenträger an – von der Baufirma und vom Bezirksamt, das gleich noch die Baumscheiben pflegte, die Gehwege entrümpelte und die Autos jener Leute abschleppen ließ, die sich die plötzliche Ernsthaftigkeit der Verkehrswende nicht vorstellen konnten. Auch die Kiezläufer waren dabei, die so reden, dass sie auch zwischen Hermannplatz und Kotti verstanden werden. Und ein paar Sicherheitsleute, vorsichtshalber.

Als der Radweg fertig war, gab es Blumen und Dankesbriefe

Als die Baufirma fertig war, hingen Dankeszettel und ein Blumenstrauß an einer der Warnbaken, die sie auf die gelben Linien des neuen Radwegs gestellt hatten. Und Weisbrichs Leute wurden in den sozialen Medien gefeiert, überwiegend jedenfalls. Während beispielsweise in Treptow-Köpenick Bezirksamt und Grünen-Verkehrspolitiker noch unter breiter öffentlicher Anteilnahme auf Twitter debattieren, ob der Bezirk überhaupt schon ein Pop-Up-Radwegprojekt beim Senat angemeldet hat, setzt Friedrichshain-Kreuzberg das Mobilitätsgesetz plötzlich im Überschalltempo um. Es ist noch lange nicht fertig damit.

Was treibt den studierten Forstwissenschaftler an?

Was treibt den studierten Forstwissenschaftler, der einst das Forstamt von Bad Doberan geleitet und im Schweriner Landwirtschaftsministerium gearbeitet hat, bevor er 2019 Chef des Straßen- und Grünflächenamtes Friedrichshain-Kreuzberg wurde? Man kann sich mit ihm auf dem Gelände des Gartenreviers am Rande des Viktoriaparks treffen, coronasicher am entgegengesetzten Ende einer Zweimeter-Standardbank. Fürs Foto geht Weisbrich zu der breit ausladenden Rosskastanie gegenüber. 

Sein Lieblingsbaum, seit er im Schatten seiner Krone 2019 den langjährigen Gartenamtsleiter in den Ruhestand verabschiedet hatte. Einen Beamten, der viele Jahre seines Berufslebens damit verbracht hatte, aufrechten Hauptes seine hohen Ansprüche an die Landschaftsgärtnerei zu verteidigen – soweit das mit einem von 120 auf 25 Gärtner zusammengekürzten Personalbestand möglich war. „Und mit diesem Personal sollen wir heute in der Klimakrise die Welt retten.“

Er sei ein Verwaltungsmensch, sagt Weisbrich

In der Art, wie er die Sache angeht, unterscheidet sich Weisbrich durchaus von seinem früheren Chef Florian Schmidt, aus dessen Stadtentwicklungsressort sein Amt im Februar zur Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann gewechselt ist. Er sei weder Politiker noch Aktivist, sondern Verwaltungsmensch, sagt Weisbrich. Und als solcher habe er die Pflicht, für die körperliche Unversehrtheit der Bürger zu sorgen. „Dass die Verkehrsinfrastruktur für Fußgänger und Radfahrer unsicher ist, gilt in der Coronakrise doppelt“, sagt er. 

Zusätzlich zur Verkehrssicherheit haben wir jetzt die Eilbedürftigkeit“: zweimal drei Autospuren – auf den äußeren wird legal geparkt, auf den mittleren illegal gehalten, auf den inneren rollt der Autoverkehr, während sich auf den Gehwegen Fußgänger und Radfahrer drängeln – widersprechen dem Abstandsgebot.

„Wir wollen, dass mehr Leute Radfahren - ohne Gefahr für Leib und Leben“

Der ADAC hat am Donnerstag via Pressemeldung gegen die Umwidmung der Friedrichshain-Kreuzberger Hauptstraßen protestiert und verweist dabei etwa darauf, dass auch der Radverkehr zurückgegangen sei. Weisbrich zieht das Papier aus der Jackentasche und kommentiert es: „Niemand hat gesagt, dass der Radverkehr momentan überbordet. Aber was für eine Umgehungsstraße gilt, gilt auch fürs Radfahren: Wer Wege sät, wird Verkehr ernten. Und wir wollen, dass mehr Leute Rad fahren – ohne Gefahr für Leib und Leben.“ 

Dass der ADAC auch vor „Dooring“-Unfällen durch plötzlich öffnende Autotüren warnt, kontert Weisbrich mit dem Hinweis, dass das bei seinen Pop-Up-Radwegen erstens nicht zutreffe und dass das Problem zweitens gern mal gemeinsam mit dem Club angegangen werden könne – auf die Gefahr hin, dass dann auf fast allen Hauptstraßen eine Autospur umgewidmet werden müsste. „Im Gegensatz zum ADAC sind wir in der Verwaltung auch persönlich verantwortlich für die körperliche Unversehrtheit aller Verkehrsteilnehmer. Uns bei diesem Thema Klientelpolitik vorzuwerfen, finde ich zynisch.“

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Ganz so provisorisch, wie sie aussehen, sind die „Corona-Radwege“ gar nicht: Neun von zehn Projekten seien ohnehin geplant gewesen, und nach der Einrichtung werde jedes Werk per Drohne zentimetergenau dokumentiert und binnen weniger Tage evaluiert für spätere Nachjustierungen. Warum das in den meisten Bezirken trotz Mobilitätsgesetz nicht funktioniert, mag Weisbrich nicht beurteilen. 

Zutat aus Friedrichshain-Kreuzberg für mehr Radwege: klare politische Prioritätensetzung

Er kann aber die Zutaten aus Friedrichshain-Kreuzberg erklären: klare politische Prioritätensetzung, „Stehvermögen der politischen Leitung“, also der Bezirksbürgermeisterin, sowie „Führung und Motivation des Personals“. Etwa durch den demonstrativen Auftritt am Kottbusser Damm, aber auch durch 20 neue Stellen für das ausgezehrte Amt. Das signalisiere nach innen, dass es endlich wieder aufwärts gehe – und nach außen, dass die Verwaltung systemrelevant sei.

Die bewährte Erklärung, dass Projekte unter Beteiligung der Verkehrslenkung des Senats eher Äonen als Jahre brauchen, gilt seit zwei Wochen nicht mehr: Seitdem gibt es einen Handlungsleitfaden zur Anlage von Radwegen, der teure und langwierige Ingenieursplanung durch Standardschemata ersetzt. „Dieser Leitfaden ist Gold wert“, sagt Weisbrich; das Werk sei bereits ins Englische und Französische übersetzt worden sei. Der neue Chef der – als Abteilung „Verkehrsmanagement“ in die Verkehrsverwaltung eingegliederten – Behörde sei „eine sehr glückliche Personalentscheidung der Senatorin“ gewesen, sagt Weisbrich.

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Man könnte auch sagen: Die Grünen (denen Weisbrich selbst nicht angehört) packen jetzt an, wofür sie vor mittlerweile dreieinhalb Jahren gewählt worden sind und was seit bald zwei Jahren in Berlin Gesetz ist. Weisbrich zählt das Programm für die nächsten Wochen auf: Radstreifen in der Möckernstraße, neben den schmalsten Gehwegabschnitten auf der Frankfurter Allee sowie in der Holzmarktstraße. Außerdem vier Fahrradstraßen im Nebennetz. 

Und wenn nach den Wochenmärkten auch die Spielplätze wieder geöffnet werden, müsse dort das absehbare Gedränge vermieden werden – durch Wochenendsperrungen von etwa 30 Straßenabschnitten. Weisbrich geht davon aus, dass sich an seinen Zwölf- bis 14-Stunden-Arbeitstagen erst mal nichts ändern wird.

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