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OP-Vorbereitung: Der Kopf des Patienten ist fixiert und das Operationsgebiet markiert. Er ist bei Bewusstsein.

© Kitty Kleist-Heinrich

Wach-OP beim Hirnturmor: Augen auf und durch

Wenn ein Tumor dem Sprach- oder Motorikzentrum im Gehirn zu nahe kommt, entfernen Chirurgen ihn oft bei vollem Bewusstsein des Patienten. Wir waren bei einer Operation dabei.

Das blaue Tuch über ihnen dämpft das grelle Licht der Deckenfluter. In der schützenden Höhle haben die beiden ihre Köpfe dicht zusammengesteckt. Michael Klaus (Name geändert) und Ina Bährend reden leise miteinander. Sie hält seinen Arm, spürt jeder seiner Muskelbewegungen nach. Er erzählt von seinem Studium, sie fragt, ob er Schmerzen habe... Plötzlich kreischt ein hochfrequentes Geräusch durch den Operationssaal. Beherzt sägt Katharina Faust mit einer Stichsäge ein zehn Zentimeter großes Loch in den Schädel von Michael Klaus. Die Oberärztin an der Klinik für Neurochirurgie der Charité ist bestrebt, den Kreis schnell zu vollenden, vor allem im Interesse von Michael Klaus. Nicht der Schmerzen wegen – die Lokalanästhesie an seinem Kopf wirkt längst – sondern um die unangenehmen Geräusche zu minimieren.

Es ist Mittwoch früh, 8 Uhr. Im Operationssaal im 4. Stock des Charité-Bettenhochhauses in Mitte wird Michael Klaus heute etwas tun, was nur wenige können: einen Blick in sein eigenes Gehirn werfen. Ihm wird ein Tumor entfernt, bei vollem Bewusstsein. Der Tumor sitzt in der rechten Hirnhälfte, sehr dicht an dem Areal, das die Motorik von Beinen und Armen, Händen und Füßen steuert und ebenso die Gesichtsmimik. Deshalb haben sich die Ärzte für eine Wach-OP entschieden. So kann der Chirurg gemeinsam mit dem Patienten erkennen, wenn er sich den Leitungsbahnen nähert, die die Bewegungsbefehle des Gehirns in die Muskeln senden. Der 32-jährige Grafikdesigner aus Berlin ist darauf angewiesen, dass die Bewegungsfähigkeit seiner Hände möglichst unbeeinträchtigt bleibt.

Es klingt wie eine elektrische Zahnbürste

Michael Klaus wird später sagen, dass er von dem Schnitt nichts gespürt habe. Und das Geräusch ihn eher an eine elektrische Zahnbürste denken ließ. Aber das könnte auch an dem Propofol gelegen haben, das er bekam. Gemeinhin bekannt als „Scheiß egal“-Spritze. Diese coole Haltung wird er heute noch brauchen.

Er liegt auf dem OP-Tisch, sein Kopf ist nach links geneigt. Bewegen kann er ihn nicht mehr. Eine sogenannte Mayfield-Klemme hält ihn buchstäblich wie im Schraubstock fest. Denn das kleinste Zucken während der OP könnte verheerende Folgen haben. Die Kopfklemme hat drei Dorne, die durch die Kopfhaut fest an die Schädeldecke geschraubt werden. Auch davon spürt Michael Klaus nichts. Die Kopfhaare auf der rechten Schädelseite hat Ina Bährend vorher abrasiert und mit einem schwarzen Stift einen großen Halbkreis auf die rasierte Kopfhaut gemalt. Hier bereitet Chirurgin Faust den Eingriff vor, den ein paar Minuten später der Klinikdirektor der Neurochirurgie, Peter Vajkoczy, vollenden wird. Faust hat die Kopfhaut eingeschnitten und wie einen Skalp weggeklappt, um die Schädeldecke freizulegen. Die eben von ihr herausgetrennte Scheibe Schädelknochen legt die OP-Schwester in ein stählernes Schälchen, sie wird nach dem Eingriff wieder eingesetzt.

In dem zurückgebliebenen großen Loch sind die Gehirnwindungen schon sichtbar, noch verdeckt durch die zähe Hirnhaut. Auch diese durchtrennt Katharina Faust, klappt sie zur Seite. Nun liegt das Gehirn frei.

Von alldem kann der Patient nichts sehen. Oberkörper und Kopf sind bedeckt von blauen OP-Tüchern, sein Gesichtsfeld dadurch eng begrenzt. Die zwei großen Bildschirme über dem OP-Tisch sind für ihn (noch) unsichtbar. Auf dem rechten sind die früher erstellten MRT-Aufnahmen des Gehirns von Michael Klaus zu sehen. In den typisch grauschattierten Bildern ist der Tumor rot eingefärbt. Auf dem linken Bildschirm sind Livebilder des Operationsfeldes mit dem Blick in das Gehirn zu sehen. Der Computer blendet in die vergrößerte Liveaufnahme wichtige Informationen ein. Fachleute nennen das Augmented Reality (AR) – „erweiterte Realität“. Viele Menschen kennen die AR von Handyspielen wie „Pokemon Go“, bei dem virtuelle Monster in der realen Umgebung erscheinen. Und auch der Bildschirm im OP zeigt ein Monster: den Tumor, in roter Farbe. Um ihn herum verlaufen drei unterschiedlich breite Bänder, in Rosa, in Gelb und in Blau. Das sind die Leitungswege, die die Befehle des Gehirns an die Beine (blau), an die Hände (rosa) und an die Gesichtsmimik (gelb) weiterleiten. Diese Areale sollen bei der OP unverletzt bleiben, sonst drohen dem Patienten Lähmungen.

Der Weg der Steuerimpulse

Diese Leitungsbahnen aufzuspüren, ist das Resultat von Hightech und viel Zeit. Einen Tag vor der Operation sitzt Michael Klaus deshalb im 15. Stock des Bettenhochhauses in einem kleinen Untersuchungszimmer, in dem ein Gerät steht, das mit Hilfe eines Magnetfeldes den Weg der Steuerimpulse an die Muskeln sichtbar macht. Der Patient sitzt in einem orange-grauen Liegestuhl. Eine Assistentin fährt mit einer handlichen Magnetspule langsam durch sein dichtes Haar. Die Spule erzeugt ein elektromagnetisches Feld, das Kopfhaut und Schädeldecke durchdringt und im Gehirn die Neuronen anregt. Dabei entsteht ein Nervenimpuls, der irgendwo im Körper eine unwillkürliche Muskelzuckung auslöst. Der Weg, den der Nervenimpuls durch das Gehirn nimmt, wird vom Computer registriert und kartografiert.

Der Patient leidet unter einem bösartigen Hirntumor, einem Astrozytom. Es hat Michael Klaus nicht zum ersten Mal erwischt. Bereits acht Jahre zuvor mussten Chirurgen der Charité schon einmal eine Geschwulst aus seinem Gehirn entfernen. Die Stelle ist noch heute deutlich im MRT sichtbar – als dunkles Loch. Denn Zellen im Gehirn wachsen nicht nach. Entferntes Gewebe lässt eine Leerstelle zurück, die sich mit Hirnwasser füllt. Auch die heutige, zweite Operation wird solche Spuren zurücklassen.

Nach der ersten OP musste sich Michael Klaus alle sechs Monate nachuntersuchen lassen. Jahr für Jahr verging, ohne Befund. Langsam trat die anfängliche Angst, dass der Krebs zurückkehren könnte, in den Hintergrund. Michael Klaus plante sein Leben. Er heiratete. Das Paar bekam zwei Kinder, das jüngste ist jetzt anderthalb Jahre alt. Auch die aktuellste Nachkontrolle vom Spätsommer 2018 zeigte keine Auffälligkeiten.

Die Erleichterung erwies sich als trügerisch. In einer Nacht im Januar 2019 rissen Michael Klaus urplötzlich Krampfanfälle aus dem Schlaf. „Ich bin gleich am Folgetag zum Arzt, hoffte auf etwas Harmloses.“ Doch das Ergebnis der Untersuchung war nicht harmlos. Der Krebs war zurück, und er war offenbar rasend schnell gewachsen. Von null bei der letzten Nachkontrolle auf zwei Zentimeter Durchmesser vier Monate später. Das Wachstumstempo bestimmt den Grad der Aggressivität eines Krebsgeschwürs. Insgesamt gibt es vier Grade, von I gutartig bis IV aggressiv bösartig.

Mit Instrumenten arbeitet er sich ins Gehirn vor

Der erste Tumor im Hirn von Michael Klaus hatte Grad III. Welchen der jetzige haben würde, stellt sich erst Tage nach dem Eingriff heraus, wenn das entfernte Material in der Pathologie untersucht worden ist.

Klinikdirektor Peter Vajkoczy beginnt mit dem Eingriff. Er sitzt am Kopf seines Patienten, vor seinen Augen ein OP-Mikroskop, in das die Bilder mit den AR-Informationen eingespielt werden. Mit seinen Instrumenten arbeitet sich Vajkoczy in das Gehirn vor. Das Problem dabei: Er muss sich erst durch zwei Zentimeter gesundes Gewebe hindurcharbeiten. Dabei zerstört er wohl oder übel gesunde Neuronen. Aber keine Zelle im Gehirn ist überflüssig. Welche Folgen deren Ende haben kann, ist unklar.

„Wir können zwar recht genau vermessen, wo die Leitungsbahnen für die Sprache und die Motorik verlaufen und sie bei einem Eingriff entsprechend schonen“, sagt Vajkoczy. Aber viele komplexe Fähigkeiten des Gehirns, ebenso die Gefühle oder die Persönlichkeit basieren auf der Vernetzung von Neuronen, die sich überall im Gehirn verteilen, ohne dass man diese Areale exakt bestimmen könnte.

„Was wir bisher über das Gehirn wissen, umfasst gerade mal 15 bis 20 Prozent der gesamten Wahrheit.“ Und deshalb könne man auch nie genau vorhersagen, ob und wie sich die Beschädigung der Neuronen auf dem Weg zum kranken Teil auswirkt. „Daher ist es entscheidend, den Zugang so schonend wie möglich zu halten und durch schmale Korridore zu arbeiten.“

Der Chirurg hat den Tumor erreicht. Michael Klaus, der wach unter dem blauen Tuchzelt verborgen ist, geht es gut. Ina Bährend, die die ganze Zeit dicht bei ihm sitzt, hat kein unkontrolliertes Muskelzucken bemerkt. Doch plötzlich wird es hektisch im OP. Michael Klaus hat seine Füße bewegt. „Haben Sie das mit Absicht getan“, fragt Vajkoczy. Wären das unwillkürliche Bewegungen, wäre er mit seinen Instrumenten gefährlich nahe an den Arealen, die die Muskeln der Beine steuern. „Ich habe mich nur gestreckt, mir waren die Füße eingeschlafen“, sagt Michael Klaus – erstaunlich cool für die Situation, in der er sich gerade befindet.

Und er ist auch neugierig. Er möchte gern den Monitor sehen, der das Innere seines Gehirns zeigt. „Schieben Sie mal den Monitor in sein Blickfeld“, sagt Peter Vajkoczy. Sein Patient sieht nun die Windungen seines Gehirns und das Loch darin, das in der Vergrößerung einem Krater ähnelt. Doch auch dieser Anblick vertreibt seine Coolness nicht. „Das ist für mich wie die Sendung mit der Maus im Fernsehen“, scherzt er. Dann wird der Monitor zurückgeschoben. Den Anblick der Operation will man dem Patienten dann doch nicht zumuten. Könnte zu sehr verstören.

Sollte tatsächlich mal etwas schwer Verstörendes für den Patienten bei einer Wach-OP geschehen, sich plötzlich ins Bewusstsein fressende Todesangst etwa oder Visionen, die Albträume auslösen könnten, bleibt ein Notausgang. Die Medizin bietet die Möglichkeit, Erinnerungen nachträglich auszulöschen. Medikamente – sogenannte Benzodiazepine – können eine begrenzte Amnesie auslösen. Auch Michael Klaus wird vor dem Eingriff über diese Möglichkeit aufgeklärt. Er wird sie nicht nutzen.

Der Tumor wird sichtbar

Jetzt geschieht Entscheidendes. Auf dem Bildschirm wird ein grün fluoreszierender Klumpen sichtbar: der Tumor. Um gesunde von kranken Zellen zu unterscheiden, nutzt die Neurochirurgie eine Schwachstelle des Tumors aus. Denn der muss sich schnell an die Blutversorgung des Körpers anschließen, sonst stirbt er ab. Wegen der Eile seien diese Gefäße aber „schlampig“ konstruiert, sagt Vajkoczy. Die Blut-Hirnschranke, die verhindert, dass fremde Substanzen über die Blutversorgung die Neuronen erreichen, ist im Tumorgewebe nicht existent. Und so kann der Arzt ein fluoreszierendes Kontrastmittel spritzen, das sich im Tumor sammelt, das umliegende gesunde Gewebe aber nicht erreicht.

Vajkoczy trennt das bösartige Gewebe nicht mit einem Skalpell heraus. Es ist so weich, dass er es mit einer scharfen Kanüle ausschaben und dann absaugen kann. Kurz vor Ende des Eingriffs lässt er ein weiteres Mal Kontrastmittel spritzen. Wenn er alle Tumorzellen erwischt hat, dürfte es jetzt nicht mehr fluoreszieren. Absolute Sicherheit aber gibt es nicht. „Hat man mehr als 90 Prozent der Krebszellen entfernt, ist das eine erfolgreiche Operation“, sagt der Chefarzt.

Klarer wird der Erfolg erst im MRT. Deshalb bietet der OP der Neurochirurgie eine seltene Besonderheit. Gleich nebenan, nur durch eine Schwenktür getrennt, steht ein MRT. Der Patient kann mit einer speziellen Transportliege vom OP-Tisch direkt in den MRT geschoben werden, so auch Michael Klaus. Nach 30 Minuten ist klar: die 90-Prozent-Marke ist übertroffen.

Es könnte also alles gut sein. Aber noch fehlt ein wichtiges Resultat: die Gewebeprobe. Am darauffolgenden Montag bekommt Michael Klaus das Ergebnis. Der Tumor ist bösartiger als der erste, Grad IV. Andererseits zeigt er sich anfällig für eine Chemo- und Strahlentherapie. Die beginnen in wenigen Tagen. Michael Klaus muss gegen den Tumor in die nächste Runde. Seine außergewöhnliche Ruhe während der Operation aber hat gezeigt, dass er ein Kämpfertyp ist.

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