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Trotziger Auftritt. Die Neonazis Sebastian T. (links) und Tilo P. im Amtsgericht Tiergarten

© Frank Jansen

Wende im Verfahren um rechtsextreme Anschläge: Plötzlich steht im Berliner Neukölln-Komplex ein Tötungsdelikt im Raum

Die Justiz hält die Verurteilung zweier Neonazis wegen eines Tötungsdelikts für möglich. Einer der Verteidiger fordert deshalb eine Aussetzung des Verfahrens.

Im Verfahren um die rechtsextremistische Anschlagsserie in Berlin-Neukölln kam es vor Eröffnung des Prozesses gegen zwei Neonazis am Montag zu einer entscheidenden Wende: Das Landgericht hält die Verurteilung zweier Neonazis wegen eines Tötungsdelikts für möglich.

Mit einem entsprechenden Beschluss gab das Gericht einer Beschwerde des Linke-Abgeordneten Ferat Kocak statt und ließ ihn als Nebenkläger bei dem am Montag vor dem Amtsgericht beginnenden Prozess zu. Der Anwalt Mirko Röder, Verteidiger eines Hauptbeschuldigten, fordert nun die Aussetzung des vor der Amtsgericht Tiergarten beginnenden Verfahrens.

Bislang sind die beiden Neonazis Sebastian T. und Tilo P. wegen Sachbeschädigung und Brandstiftung anklagt. Sie sollen 2018 Kocaks Auto in Brand gesetzt haben. Erst die Feuerwehr verhinderte, dass die Flammen vollständig auf das Haus übergriffen, in dem Kocak und seine Eltern schliefen.

Zunächst wollte das Amtsgericht Kocak nicht für die Nebenklage zulassen, weil die psychischen Folgen des Anschlags nicht schwer genug seien. Zudem sei bei der bislang angeklagten Sachbeschädigung und Brandstiftung per Gesetz keine Nebenklage zugelassen.

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Erst nach Kocaks Beschwerde ließ ihn das Landgericht nun doch als Nebenkläger zu. Eine Tötungsabsicht der Angeklagten sei „nicht so fernliegend“, dass Kocak der Zugang als Nebenkläger verwehrt werden könne. Angesichts „der Heftigkeit des Brandgeschehens“ sei „die Bewertung, dass die Angeklagten T und P hätten ein Übergreifen des Brandes auf das Wohnhaus und weitgehend den Tod der dort aufhältigen Menschen gehalten und billigend in Kauf genommen“, nicht fernliegend, heißt es im Beschluss des Landgerichts.

Tilo P.s Anwalt sagt, Kocak habe „Sonderwissen“

Für die Zulassung einer Nebenklage sei diese „entfernte Möglichkeit“ eines Tötungsdelikts entscheidend, sagte eine Gerichtssprecherin. Das bedeute aber nicht, dass bislang ein hinreichender Tatverdacht dafür gesehen werde. Die Anforderungen für die Zulassung einer Nebenklage seien deutlich geringer als beispielsweise für die Erhebung eine Anklage.

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Es gebe die Möglichkeit, dass die Angeklagten „wegen eines versuchten Tötungsdeliktes (…) verurteilt werden, heißt es im Beschluss des Gerichts. Zweck der Nebenklage sei außerdem, dass Kocak „aktiv auf die – tatsächlich ungewisse – Verurteilung wegen einer solchen Straftat hinwirken will“.

Für den Prozess könnte das Folgen haben, wie Mirko Röder, Anwalt von Tilo P. sagt. Er will die Aussetzung des Prozesses beantragen. „Jetzt ist ein veritabler und prominenter Nebenkläger, ausgestattet mit Sonderwissen aus dem Untersuchungsausschuss des Abgeordnetenhauses, im Prozess“, sagt Röder.

Röder stellt auch das Gericht in Frage

Sein Mandant sehe sich nun dem Vorwurf eines versuchten Tötungsdelikts ausgesetzt. „Darauf müssen wir uns vorbereiten, die Verteidigung neu ausrichten.“ Zudem müsse er wegen möglicher Schadenersatzansprüche des Opfers „zivilrechtliche Expertise in Anspruch nehmen“.

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Überdies stellte Röder in Frage, ob das erweiterte Schöffengericht am Amtsgericht Tiergarten noch die richtige erste Instanz für den Prozess ist, wenn jetzt ein versuchtes Tötungsdelikt im Raum steht. „Ich hätte erwartet, dass das Landgericht das Verfahren jetzt gleich an sich zieht“, sagte er.

Ohnehin sind nicht wenige Berliner Strafrechtler verwundert: Wenn schon ein Prozess wegen der Brandanschläge, warum im Fall Kocak nur wegen Sachbeschädigung und nicht gleich wegen versuchten Mordes? Dann wäre die Klage nicht vor dem Amtsgericht, sondern vor dem Landgericht gelandet und irgendwann durch Berufung und Revision beim Bundesgerichtshof.

Im Mittelpunkt des Prozesses stehen zwei Rechtsextreme

Die Berliner Justiz hätte sich wegen einer möglicherweisen dürftigen Beweislage der Anklage blamieren können. Doch die Staatsanwaltschaft erhob die Anklage so, dass der Fall in den Berliner Instanzen bleibt und maximal vor dem Kammergericht endet.

Angeklagt sind insgesamt fünf Männer. Im Mittelpunkt stehen die beiden Männer im Alter von 35 und 39 Jahren aus der rechtsextremen Szene, P. war zeitweise AfD-Mitglied, T. einst bei der NPD, seit geraumer Zeit bei der Partei „Dritter Weg“ aktiv. Die Vorwürfe lauten Bedrohung, Brandstiftung beziehungsweise Beihilfe dazu, Sachbeschädigung und Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen.

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