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Liebe und Entbehrung: Tagesspiegel-Redakteur Ingolf Patz, 52, mit seiner Mutter Margarete Patz, Jahrgang 1927.

© privat

„Ich denke nicht daran, zu sterben“: Pflegebedürftig, aber wenigstens zu Hause

Was empfinden alte Menschen in Berlin dabei, jahrzehntelang zu Hause gepflegt zu werden? Und was bedeutet es für die Angehörigen? Die Tagesspiegel-Redakteure Annette Kögel und Ingolf Patz kennen das Glück im Unglück.

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Sie nehmen das Schicksal und die Herausforderung an: In Berlin werden rund 157.000 von 186.000 Pflegebedürftigen zu Hause gepflegt. 200.000 Angehörige und Bezugspersonen machen es möglich. Unsere Redakteure Ingolf Patz und Annette Kögel wissen, wie das ist.

„Haltet zusammen, dann kann euch nichts passieren“

In den 15 Jahren nach dem Tod meines Vaters haben meine demenzkranke Mutter Margarete und ich uns mehrmals neu kennengelernt, das ist das Schöne. Ich als Nesthäkchen und Nachkömmling, heute 52, hatte viele Phasen unserer Familiengeschichte verpasst. Nun, wo sie kaum noch neue Eindrücke abspeicherte, war Zeit, die Vergangenheit nachzufühlen, Folgen zu verstehen. Meine Mutter lebte am Ende hauptsächlich in ihren Erinnerungen, als sie etwa fünf bis 13 Jahre jung war. Oft hielt sie mich, der zu ihr zurückgezogen war, für ihren großen Bruder, den sie so gern gehabt hätte. Ich spielte gerne mit. Das ließ die Knochenarbeit Pflege etwas leichter von der Hand gehen. Wir machten viel Blödsinn und lachten, bis zu ihren letzten Momenten.

Und wir hatten Zeit, miteinander in die Tiefe zu gehen. Wir sprachen über ihre Rolle, die sie im Familienverbund spielte; über die Gefühle in ihren Lebensphasen. Meine Mutter, Jahrgang 1927, war in Berlin und bis zur Einschulung in Brandenburg bei den geliebten Großeltern aufgewachsen. Wegen meiner Mutter hätten ihre Eltern viel zu jung heiraten müssen. Das hat sie lebenslang verfolgt. Hitlerjugend, Krieg, Nachkriegszeit im Allgäu. Ausbildung zur Rote-Kreuz-Schwester und Flucht in die USA vor der Verantwortung – zu früh, zu viel – oder vor einer Ehe. Erst einmal etwas von der Welt sehen.

So viel Zeit wie möglich mit uns Kindern verbringen

Meine Mutter arbeitete im Haushalt einer emigrierten jüdischen Brauerei-Familie, die sie fast wie eine Tochter aufnahm. In Los Angeles lernt sie mit 30 meinen Vater kennen, er aus Spandau. Die späte Entscheidung, doch noch Kinder zu bekommen, das erste mit 30, das Letzte mit 44 Jahren, führte zur Entscheidung, soviel Zeit wie möglich mit ihnen zu verbringen, anders, als es ihre Eltern möglich war. Nach den USA und einem späteren Zwischenspiel in Südafrika kam ihr Deutschland unerträglich rückständig vor.

Das junge Paar Margarete und Günter Patz im Honeymoon im Schnee. Magesspiegel-Redakteur Ingolf Patz hat seine Mutter im Alter gemeinsam mit seinen Geschwistern viele Jahre zu Hause gepflegt.

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Gleichzeitig fühlte sie sich spätestens nach meiner Geburt 1972 als „nur Hausfrau“ nicht ernst genommen. Zurück in Berlin kapselte die Familie sich ab.

Zu erschöpft, um uns zu immer neu zu informieren

Das Fremdeln hielt an. Bei uns allen. 15 Jahre lang haben wir drei Kinder unsere Mutter weitgehend ohne Hilfen „von außen“ gepflegt. Eben, weil es kein „offenes Haus war“, aber auch, weil uns die Hilfsangebote zu wenig individuell erschienen, und weil wir irgendwann so erschöpft waren, dass wir keine Energie hatten, uns neu zu informieren oder den Alltag, der gerade so lief, dadurch durcheinanderzubringen.

Meine Mutter besaß kaum noch ein Bewusstsein dafür, wie wir uns dafür einschränken mussten. Sie freute sich einfach, vertraute Menschen um sich zu haben, individuell umsorgt, ohne die aufgezwungene Routinen wie einst als Hausfrau. Als Kind hatte ich manchmal das Gefühl, dass wir ihr ihre Freiheit raubten; davon wollten wir ihr nun so viel wie möglich erhalten.

Haltet zusammen, dann kann euch nichts passieren.

Margarete Patz, zu ihren Kindern

„Haltet zusammen, dann kann euch nichts passieren!“ Ob ihre Lebensweisheit, die sie fortwährend wiederholte, die vielleicht noch aus den Kriegserfahrungen her rührte, für uns pflegende Angehörige stimmt, das muss sich noch erweisen. Haben wir genug, das Richtige getan? War ich am Anfang der Demenz tolerant genug? Was ist mit nicht abgerufenen Hilfsgeldern passiert? Sollten wir uns jetzt für individuellere (Heim)pflege engagieren? Haben wir Kindern genug für unsere eigenen Leben gesorgt? Ist es für mich möglich, wieder in Vollzeit in den Beruf zurückkehren?

Dass mehr auf die Pflegenden achtgegeben wird, nicht nur „Pflege gesichert“ notiert wird, wäre wichtig. Die Pflege steckt uns noch in den Knochen, wortwörtlich. Die Abläufe waren in Fleisch und Blut übergegangen, wir müssen sie erst einmal abschütteln. Am 1. Advent 2023 ist unsere Mutter zu Hause bei uns gestorben. Sie hat sich immer vorgestellt, sie würde dann als ein warmer Wind um die Erde wehen. Gut, jetzt die laue Luft zu spüren. Hallo, Margarete!

„Das habe ich alles Deiner Mutter zu verdanken“

Wenn ich mal ein Zipperlein habe, fällt mir immer mein Vater ein. Er kann sich seit mehr als vier Jahrzehnten nicht mehr bewegen. Nur noch den Kopf. Er sagt aber immer „Ich bin kerngesund, bis auf die MS.“ Multiple Sklerose. Die Diagnose bekam er mit 43 Jahren, meine Mutter war 44, meine Schwester zwölf, und ich 18, gerade Abitur.

Reiner und Ursula Kögel als junges Paar. Ursula Kögel hat ihren mit Anfang 40 an Multipler Sklerose erkrankten Mann bis zu ihrem Tode im Jahr 2020 mehr als 35 Jahre lang zu Hause betreut und gepflegt.

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42 Jahre später bin ich manchmal sentimental, dass ich nie einen Vater hatte, der mir beim Umzug helfen oder seine Frau als Rentner an die Hand nehmen konnte. Meine Mutter schüttelt jetzt im Himmel den Kopf, sie hatten trotz allem ein schönes Leben.

„Dass Deine Mutter vor mir mit 82 stirbt, das ist nicht fair“, sagt mein Vater, jetzt 85, nun seit Jahren bettlägerig im Heim. Und: „Ich denke gar nicht daran, zu sterben. Mir geht es gut. Das habe ich alles Deiner Mutter zu verdanken.“ Mein Vater meint das ernst, er bekommt keine Psychopharmaka. Wollte er noch nie.

Anfangs darf keiner das Wort Rollstuhl aussprechen, später sind wir froh, dass es ihn gibt. „Ich hatte zwei Stützen: Deine Mutter, und die Deutsche Bank.“ Sein Arbeitgeber gestaltet die von meinem Vater aufgebaute Filiale in Buckow behindertengerecht um, und eine Mitarbeiterin holt ihren Chef jeden Morgen mit dem Auto ab, hält ihm Telefonhörer und Stift, bis es nicht mehr geht.

Sein Leuchten in den Augen, da durchströmt es mich

Sein Schicksal prägt und belastet, wir versuchen aber, aus allem das Beste zu machen. Immer, wenn ich meinen Vater ins Auto wuchtete für einen Ausflug, wenn wir erwachsenen Kinder Urlaub nahmen, um unseren Eltern als Betreuer eine Reise auf die geliebte Insel Ischia zu ermöglichen, immer, wenn ich das Leuchten in ihren Augen sah, durchströmte es mich: Eigentlich müsstest Du Dich vom Job freistellen lassen. Doch da war auch die Überwindung, ihn, wie meine Schwester, als Studentin am Wochenende früh aus dem Bett, ins Bad, in den Rollstuhl zu holen. Das brennende Gefühl der Verzweiflung, ihn so elendig hilflos zu sehen.

Meine Mutter, Kriegskind, empfand alles als ihre „verdammte Pflicht und Schuldigkeit“. Sie hat schon ihren Opa, ihren Vater, ihre Mutter gepflegt. „Ich kann mir selbst auf die Schulter klopfen.“ Früher habe ich mit den Augen gerollt. Aber es ist so wahr.

Fast vier Jahrzehnte den Ehemann zu Hause gepflegt: Ursula und Reiner Kögel, mit Anfang achtzig, unzertrennlich.

© privat

Urinflaschen („Die Ente“) oder Essen anreichen, Katheter, Physiotherapie, Warten auf Pfleger, ihm den Tagesspiegel umblättern, Physiotherapie, keine Nacht durchschlafen, falsche Hilfsmittellieferungen, nie das Zuhause für sich allein.

Meinen Eltern fiel es schwer, „Fremdkräfte“ für die Pflege zuzulassen, für uns Töchter war es eine Erleichterung, aber im Hintergrund waren wir doch immer da. Meine Schwester sogar ganz in der Nähe viel gefragt, ich weiter weg. Die Pfleger brachten auch frischen Wind, Humor, Lebensfreude.

Verzweiflung und Kraft: Tagesspiegel-Redakteurin Annette Kögel, 59, mit ihrem Vater Reiner Kögel, 85. Ihre Mutter Ursula Kögel pflegte ihren Mann fast vier Jahrzehnte lang zu Hause; die beiden Töchter halfen mit. Foto: Annette Kögel

© Annette Kögel

Ich bin tieftraurig, und dankbar. Für Lebenswille und Unerschütterlichkeit, die wir von ihm mitbekommen: „Aufgeben gibt es bei mir nicht.“ Und 60 Jahre Ehe? Er sagt: „Die Mami ist und war das Beste im Leben, was mir je passiert ist.“ Er vermisst sie weiter sehr, seit dem 16. Juni 2020.

Wenn ich mich, heute fast 60, mit einem Grienen als Überraschung über sein Bett beuge, kommt: „Annette! Hast Du denn nichts Besseres zu tun?“ Nein. Nur manchmal senkt er den Kopf und sagt sinnierend: „Furchtbar.“ Trotzdem haben wir alle Glück im Unglück.

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