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© Cristina Ferrauti

Spitzenrestaurant Ikoyi: Von Afrika aus in die Welt

Scharf, bitter, forsch: Im „Ikoyi“ in London tüfteln zwei Quereinsteiger an einer spektakulären Küche mit regionalen Produkten, westafrikanischen Gewürzen und polyglotten Kochtechniken. 

Von Felix Denk

Eine gute Portion Aufregung gibt es gleich zum Auftakt. Die Brühe aus Kombu-Algen und getrocknetem Fisch, die das Menü eröffnet, massiert schonmal alle Geschmacksrezeptoren ordentlich durch. Durch den wohligen Umamigeschmack piekst da diese pointierte Schärfe, die ein Leitmotiv ist im „Ikoyi“. Darunter liegt eine Menthol-Note, etwas Ledriges, Rauchiges, Fruchtiges. Gola heißt die Pfeffersorte, die für dieses komplexe, vibrierende Aroma verantwortlich ist. Sie kommt aus Sierra Leone.

Wie viele Pfeffersorten Jeremy Chan in der Küche hat? „Keine Ahnung“, sagt der 36-jährige Koch. Jedenfalls mehr als er eben aufzählen könnte. Er importiert sie aus Kamerun, Thailand, Vietnam, China, Indien, Mexiko... „Wo sie herkommen, ist mir egal. Ich sortiere sie nach Geschmacksprofilen, besonders interessieren mich Bitternoten und Zitrusaromen, und ich mische sie auch gerne zu etwas Neuem.“

Ikoyi ist ein schicker Stadtteil von Lagos, der Hauptstadt von Nigeria. Und ein Restaurant, das es so vielleicht nur in London geben kann. Hier bekommt man, was man sonst vergebens sucht. Etwa Moin Moin, einen westafrikanischen Dumpling, zum Hummer, Egusi, eine Suppe, die hier als angedickte Sauce aus Kürbiskernen die Seezunge begleitet, oder den berühmten Jollof Rice, um dessen Herkunft sich unter anderem Nigeria, Ghana und Senegal streiten, zum gegrillten, üppig fettmarmorierten Rücken der alten englischen Schweinerasse Middle White. Und doch: Als westafrikanisch wollen sie ihre Küche hier nicht verstanden wissen. Aus gutem Grund.

Smarter Look: Im Gastraum dominieren warme Erdtöne und runde Formen.

© Irina Boersma

Als Jeremy Chan und Iré Hassan-Odukale, beides Quereinsteiger, 2017 ihr Restaurant eröffneten, passierte Folgendes. Eine Kritik in der „Times“ lobte die neue, mutige Küche, die ungewohnten Geschmäcker, die man so selbst in Londons multikultureller Fine-Dining-Szene nicht bekäme – und schnell hatten sie das Label: das erste nigerianische Restaurant in Central London. Die Geschichte passt ja auch so gut. Peruanisches Ceviche, mexikanische Mole, koreanisches Kimchi, japanisches Miso – kennt man überall auf der Welt, wenn man sich was aus Essen macht. Aber Gerichte aus Afrika? Sein Reichtum an Gewürzen, die Aromen und Geschmäcker, sind außerhalb der Communities wenig bekannt. Wer hat in Europa schon den weißen Penja-Pfeffer aus Kamerun gekostet, der auf vulkanischen Böden wächst und nach Pfirsich schmeckt? Wer die „Scotch Bonnet“-Chili, die unter ihrer robusten Schärfe fruchtige Aprikosennoten verbirgt?

Dürfen nur Koreaner über koreanische Restaurants schreiben?

Nach einer euphorischen Kritik kamen die Leser, bestellten die gepriesenen Gerichte – und kamen nie wieder. Sie waren irritiert. Noch mehr die nigerianischen Ex-Pats, die bald danach das Restaurant entdeckten. Die waren sogar bitter enttäuscht, sagt Hassan-Odukale. „Die suchen das traditionelle Essen ihrer Heimat.“

Chan erinnert sich in seinem im Frühjahr erschienene Buch „Ikoyi“ (Phaidon), halb Essay, halb Kochbuch, dass er noch nie so viel in wütende Gesichter geschaut habe wie damals. Praktisch alle Teller gingen zurück. Es hagelte schlechte Google-Bewertungen. Einer schrieb, Hassan-Odukale solle doch endlich den chinesischen Koch loswerden und einen richtigen, afrikanischen einstellen.

Der thesenfreudige US-Starkoch David Chang hat mal in einem Podcast vorgeschlagen, dass nur Koreaner Kritiken über koreanische Restaurants schreiben sollten. Seine Eltern sind aus dem Nordteil des Landes geflüchtet.

Wer wäre, dieser Logik folgend, berechtigt, über das „Ikoyi“ zu schreiben? Iré Hassan-Odukale stammt aus Lagos, zog mit 16 nach London und studierte Wirtschaft, sein Herz schlug aber für die Gastronomie, die er bald der Finanzwelt vorzog. Sein Kindheitsfreund Jeremy Chan wiederum ist halb Chinese, halb Kanadier. Er lebte eine Weile in Südchina, studierte in den USA, arbeitete in Madrid in der Finanzbranche. Nach Büroschluss fahndete er dort auf Märkten nach den besten Produkten und übte mit ihnen bis spät in die Nacht. Schließlich kündigte er und organisierte ein Praktikum nach dem anderen in immer besseren Restaurants, bis er im „Noma“ und im „Dinner“ von Heston Blumenthal landete.

Opulente Kreation: Die Muschel-Crème caramel mit Safran toppt ein üppiger Klecks N25-Kaviar.

© Irina Boersma

Lange blieb er nie, denn mit seinem Jugendfreund Hassan-Odukale wollte er ein eigenes Restaurant eröffnen. Was sie einte, war ihre Liebe zu scharfem Essen, zu Gewürzen, zu Umami. Wumms gepaart mit unbändiger Entdeckungslust.

Nach der ersten Welle der Neugier blieb ihr Laden lange leer. Über Monate. Sie waren schon kurz vor dem Aufgeben, dann kam der erste Michelin-Stern. Die Wende. Heute haben sie zwei Sterne und klettern in der bekannten „50s Best“-Liste stetig nach oben, aktuell bis auf Platz 35. Wenn sie im Monatstakt die begehrten Plätze zur Reservierung freigeben, sind die meisten in Minuten weg. Dabei haben sie am Wochenende nicht mal geöffnet. Längst sind sie ein „Destination Restaurant“, für das Leute aus der ganzen Welt anreisen.

Eine Autorenküche, keine Landesküche

Warum? Vielleicht, weil sie so vieles anders machen. Erstmal fehlt die Echtheitsbehauptung: Wer das Authentische sucht, ist hier falsch. Natürlich reisten Chan und Hassan-Odukale mal nach Lagos, wobei Chan besonders eine Lebensmittelvergiftung lebhaft in Erinnerung behielt, die er sich dort zuzog. Was er weiß, etwa über seine vielen Pfeffersorten, das hat sich der ehemalige Philosophiestudent in der Bibliothek angelesen.

Wir sind der Albtraum für jede PR-Agentur

Jeremy Chan

Authentisch, das ist ihnen wichtig, sei ihre Küche dennoch, unbedingt. Nämlich in dem Sinne, dass sich in den Gerichten und Geschmäckern ihre Lebensläufe kreuzen. Eine Autorenküche, keine Landesküche. Doch wie nennt man das jetzt? Das wissen sie auch nicht so genau. „Wir sind der Albtraum für jede PR-Firma“, sagt Chan. „Uns geht es um Freude, nicht um Tradition“, findet Hassan-Odukale.

Den westafrikanischen Klassiker Jollof Rice servieren sie im „Ikoyi“ geräuchert mit einer Krustentier-Creme.

© Irina Boersma

In ihrer neuen Location sitzen sie immer noch zwischen allen Stühlen, aber mit mehr Plätzen, größerer Küche – und am Feuer. „Grillen konnten wir im alten Restaurant nicht. Jetzt machen wir es die ganze Zeit.“

Aufregend anders arbeiten sie immer noch. Das fängt damit an, dass sie keines dieser „Monate im Voraus bis aufs letzte Microgreen geplant“-Menüs servieren. Chan ist ein Adrenalinjunkie. Er entscheidet gern morgens um 8 Uhr spontan, was auf die Karte kommt. Und längst nicht jeder kriegt das Gleiche. „Wir haben Gäste, die kommen einmal im Monat, denen muss ich was anderes servieren, als denen, die zum ersten Mal da sind.“

Eine Pinzette mögen sie in der Schublade haben, allzu oft in die Hand nehmen sie sie am Pass eher nicht. Opulent sind neben dem Gewürz-Einsatz auch die Portionen und der Warenaufwand. Auf der Crème caramel aus Muscheln mit Safranöl sitzt ein üppiger Klecks Kaviar. Sie hätten es halt gerne „over the top“, sagt Hassan-Odukale. Die von einer protestantischen Kargheit geprägte New Nordic Cuisine, wo ein bescheidenes Rübchen neben dem anderen liegt, ist hier weit weg.

Und noch etwas fehlt: Ihre vibrierenden Menüs servieren sie ohne Storytelling. Am Tisch bekommt man keine Impulsvorträge über Produkte, Produzenten und Fermentationstechniken. Höchstens auf Nachfrage. Es gibt noch nicht mal eine Menükarte, nur hinterher beim Rausgehen, die ist aber knapp gehalten und die wenigen Wörter muss man erstmal googeln. Stichwort Moin moin.

Halb Essay, halb Kochbuch: „Ikoyi: A journey through Bold Heat with Recipies“ von Jeremy Chan ist im Phaidon-Verlag erschienen.

© Phaidon

In London eröffnen immer mehr angesagte Restaurants, die sich mit westafrikanischer Küche beschäftigen. Etwa das „Akoko“ oder das „Chichuru“. Auch in New York ist der Hype längst zu spüren. In „Ikoyi“ dagegen entfernen sie sich eher wieder von ihren Wurzeln. Selbst ihren Signature-Gang haben sie von der Karte genommen, die Kochbanane mit feuerrotem Himbeersalz und Scotch-Bonnet-Chilimayonnaise.

„Wir waren am Anfang zu forsch“, sagt Chan. „Wir konnten das nicht so einschätzen manchmal“, ergänzt Hassan-Odukale. „Es gibt einen Punkt, da ist ein Gericht versalzen, aber bei Schärfe? Da ist es ja oft genau der Kitzel, noch weiter zu gehen.“ Heute sei ihre Küche erwachsener, die Referenzpunkte weiter gestreut.

Passt der nigerianische Name überhaupt noch? Hassan-Odukale mag das Lautbild: „Ikoyi“ – so viele Vokale, wie eine Melodie. Auch das Schriftbild gefällt ihm, die Symmetrie der Buchstaben. Der Verweis auf seine alte Heimatstadt ist nachrangig. „Wir würden auch nicht anders kochen, hieße der Laden Stockport“, sagt Chan. Da ist er geboren.

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