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Sich verändern, um sich treu zu bleiben. Der Tagesspiegel zwischen 1945 und 2011.

© Tagesspiegel

Ein Blatt im Wandel der Zeit: Wie sich der Tagesspiegel über die Jahre verändert hat

Von der Bleiwüste zur „bestgestalteten Zeitung der Welt“: Der Tagesspiegel war in seiner Geschichte stets in Bewegung, erst langsam, dann immer schneller. Ein Rückblick.

Große Veränderungen stehen beim Tagesspiegel an, vielleicht die größten in seiner 77-jährigen Geschichte. Aus Anlass dieses Umbruchs lohnt sich ein Blick zurück auf die Gestaltung der Zeitung im Lauf der Jahrzehnte. Dabei sieht man, dass sich der Tagesspiegel immer wieder verändert hat, mal behutsamer, mal gravierender. Wie alle Zeitungen ist er ein Spiegel seiner Zeit und der Gesellschaft. Gewohnheiten und Bedürfnisse ändern sich und die Zeitung muss mitgehen.

Schon die erste Ausgabe vom 27. September 1945 war keine gewöhnliche Zeitung. Zwar war der Umfang von nur vier Seiten an drei Tagen in der Woche der Papierknappheit kurz nach dem Krieg geschuldet, aber die Gestaltung war bemerkenswert. Vier breite Spalten füllten das rheinische Format, Bilder gab es keine, das war technisch zu aufwendig. Auffallend war, dass alle Überschriften in Versalien gesetzt waren, ungewöhnlich für eine Tageszeitung.

Rheinische Bleiwüste. Die Zeitung zu ihrem Start 1945.
Rheinische Bleiwüste. Die Zeitung zu ihrem Start 1945.

© Der Tagesspiegel

Und der Inhalt war bunt gemischt: Politik, Kultur, Wirtschaft, alles wurde nebeneinander präsentiert. Für das Auge waren diesen breiten, kurzen Artikel eine Zumutung, Leserführung ein Fremdwort, aber das war nicht das Ziel. Die Leser waren nach zwölf Jahren Diktatur hungrig nach Informationen und sollten möglichst alles lesen, bis sie das fanden, was sie besonders interessierte. Ein Stück „reeducation“.

Und doch gab es bereits am 18. November 1945 das erste Foto zu einem Artikel über die Bürgermeisterwahl von New York. „Majestätisch, wuchtig, schön: die weltberühmte ,Himmelslinie‘ von New York“ lautete die Bildunterschrift. Von der Skyline war nicht viel zu sehen, dafür aber viel Himmel. Fotos blieben aber die Ausnahme. Die eng bedruckte Bleiwüste des Tagesspiegels der Anfangsjahre erinnerte an die englische „Times“, und die stand mit ihrem Layout für Qualität.

Die ersten Veränderungen waren äußerst behutsam. Im Mai 1949 führte man nach dem Ende der Berlin-Blockade eine Seite „Stadtblatt“ ein, die vielleicht auch für Anzeigen interessant war. Zähneknirschend gestand man sich damit ein, formal eine Regionalzeitung zu sein. Den überregionalen Anspruch in der Kommentierung aus der sich immer mehr teilenden Stadt hielt man aber aufrecht und war damit mehr als eine Regionalzeitung.

Fotos gab es nur zu ganz besonderen Anlässen

Als nach dem plötzlichen Tod des Mitbegründers Erik Reger 1954 Karl Silex ein Jahr später Chefredakteur wurde, setzte er allmählich neue Akzente. Am 20. Oktober 1959 erschien der Tagesspiegel mit fünf Spalten, was die Lesbarkeit verbesserte. Die fünfte Spalte war fortan dem Leitartikel vorbehalten, das Foto auf der Titelseite erschien meist zweispaltig. In der Regel hatte man zwei Aufmacher, nur wenn etwas Gravierendes geschah, durften es drei Spalten sein.

Die Artikel waren miteinander verschränkt, ohne Blockumbruch. In diesem Buchstabenmeer hatten Fotos damals auch deshalb kaum eine Chance, weil die Druckqualität äußerst bescheiden war. Warum also noch mit großen Formaten darauf aufmerksam machen? Manchmal genügte auch ein einspaltiges Foto im ersten Aufmacher, so etwa 1976, als Wolf Biermann aus der DDR ausgebürgert wurde.

In der Leitartikelspalte gab es an normalen Tagen zwei Kommentare untereinander. Geschah etwas Besonderes, durfte es auch ein großer Leitartikel sein wie etwa 1963 beim Kennedy-Besuch in Berlin. In diesem Fall schmückten gleich zwei Bilder blattbreit die Zeitung – ein optisches Signal: Es ist etwas Wichtiges passiert. Aber zwei Aufmacher, mit oder ohne Bild, zwei Kommentare, das war von 1960 bis 1991 die klassische erste Seite.

Ick bin ein Berliner. Tagesspiegel-Ausgabe zum Kennedy-Besuch 1963.
Ick bin ein Berliner. Tagesspiegel-Ausgabe zum Kennedy-Besuch 1963.

© Tagesspiegel

Am Sonntag war die Situation nicht besser. Die Zeitung war einfach dicker wegen des erhöhten Anzeigenaufkommens, aber es herrschte in den Wochenendseiten keine strikte Ordnung. Es gab Korrespondentenberichte, eine Jugendseite, eine Frauenseite, Mode und Haus und Garten, das Literaturblatt, auf der letzten Seite den Filmspiegel und die Serienseite, auf der meist Bücher in Fortsetzungen abgedruckt wurden. Den Kopf gestaltete immer Dieter Winzenz, der damalige Werbegrafiker. Es war ein Serienkopf mit Vignette und Weißraum, dem einzigen im damaligen Blatt.

Mit dem Fall der Mauer kam frischer Wind

Dieser war die Keimzelle für die Gestaltung der neuen Sonntagsbeilage „Weltspiegel“, die 1986 nach dem Tod Franz Karl Maiers initiiert wurde. Die disparaten Einzelseiten am Wochenende wurden nun gesammelt und neue Seite, wie die Reportagenseite „Horizonte“ kamen hinzu. Da passte viel Text drauf und die Bilder blieben zunächst klein. Die ersten Seiten des Weltspiegels musste ich damals immer der Redaktionsleitung vorlegen, erst dann durfte ich die Seite bauen.

Als Joachim Bölke zu den Abrüstungsverhandlungen einen viel zu kurzen Text ablieferte – „mehr als einen doppelten Sonntagsleitartikel schreibe ich nicht“ – blieb mir nichts anderes übrig, als zu einem amerikanischen Marschflugkörper dreispaltig unten in die Mitte und hochformatig ein auftauchendes sowjetisches U-Boot zu stellen. Bölke fand die Bilder viel zu groß, aber der Text passte und mein Argument, dass die sowjetische Bedrohung für den Leser optisch auf den ersten Blick klar sei, fand seinen Beifall. Von dem Moment an waren zumindest am Sonntag große Bilder erlaubt. Das größte Foto bis dahin erschien dann auf der Titelseite eines Extrablattes zum Fall der Mauer am 10. November 1989 – aber das war ja auch eine Ausnahmesituation.

Frischer Wind. Extrablatt zum Mauerfall 1989.
Frischer Wind. Extrablatt zum Mauerfall 1989.

© Tagesspiegel

Mit dem Fall der Mauer und der deutschen Einheit wehte ein frischer Wind durch Berlin und auch durch den Tagesspiegel. Die alte Führungsriege ging in Rente, der Konkurrenzkampf wurde härter, das Berliner „Haifischbecken“ zur existenziellen Herausforderung, der sich der Tagesspiegel mit einer für seine Verhältnisse radikalen Modernisierung stellte, die jedoch von heute aus betrachtet relativ behutsam ausfiel.

Die Wirkung der neuen Seiten entschied sich am Weißraum, nicht am gepresst wirkenden Schwarzen.

Werner Holzwarth, der erste Designer beim Tagesspiegel, 1991

Zum ersten Mal engagierte man 1991 unter dem neuen Chefredakteur Hermann Rudolph einen Designer, Werner Holzwarth, der die neuen Gestaltungsrichtlinien erarbeitete. Plötzlich herrschte Ordnung im Blatt, das nun sechsspaltig im nordischen Format erschien, das war etwas breiter als das bisher vertraute. Alle Texte wurden im Blockumbruch gesetzt, das heißt, alles, was zum Text gehörte, passte in ein Rechteck. Ein Inhaltskasten in der ersten Spalte sorgte für Übersicht, der Leitartikel wurde länger und füllte die sechste Spalte. Für die Überschriften wählte man die Times, Serviceüberschriften erschienen in der serifenlosen Univers.

Das war ein erster Schritt zur Leserführung. „Die Wirkung der neuen Seiten entschied sich am Weißraum, nicht am gepresst wirkenden Schwarzen“, schrieb Holzwarth 1991. „Aus einer asymmetrischen Ordnung wurde eine symmetrische Ordnung.“

Gravierender waren die Veränderungen, die 1994 eintraten, nachdem die Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck den Tagesspiegel übernommen hatte und unter dem neuen Chefredakteur Gerd Appenzeller für den Konkurrenzkampf mit den großen Wettbewerbern fit machte. Wieder wurde ein Designer engagiert – der Amerikaner Mario Garcia. Zum ersten Mal bekam das Blatt eine Leitfarbe: Gelb, das man allerdings schon in den 40er und 50er Jahren auf Plakaten und Kioskschildern für die „corporate identity“ genutzt hatte.

Farbe galt bis in die 90er als Boulevard

Nun stand „Unabhängige Morgenzeitung“ in Gelb über dem Titelkopf, die Banderole mit „Rerum Cognoscere Causas“ war ebenfalls gelb eingefärbt sowie alle Rubrikenköpfe. Eine fünfspaltige Banderole mit drei „Promos“ mit jeweils kleinem Bild verwies auf weitere wichtige Texte im Blatt. Auch die Titelseiten der einzelnen Bücher bekamen Promoleisten.

Aber noch sensationeller war die Einführung von Farbfotos, was dank einer neuen Druckerei nun möglich war. Bisher hatte man höchstens beim Besuch eines alliierten Staatsoberhauptes in West-Berlin Farbe auf der Titelseite gesehen, und zwar blattbreit die deutsche und die Berliner Fahne und in der Mitte die des Gastlandes, wie etwa beim Besuch der Queen 1965.

Sie muss sich, was Übersichtlichkeit, Illustration und Präzision der Information betrifft, in der Welt von heute bewegen, ohne die gewohnte Qualität preiszugeben.

Thomas Brackvogel, Projektleiter der Neugestaltung 1994 über die damals neue Zeitung

Farbe galt damals bei vielen Lesern und einigen Kollegen als unseriös, als Boulevard, die Freunde der Bleiwüste fürchteten um die Reputation des Blattes. Viele Leser zeigten sich besorgt wegen des neuen Kurses. Daher schmückte zunächst nur die Titelseite des Weltspiegels ein Farbfoto. Der hatte inzwischen einen großen Kopf mit zwei Farbpromos bekommen. Keine leichte Aufgabe, damals das passende zu finden. Es sollte noch Jahre dauern, bis die ganze Zeitung farbig wurde.

Ein Blatt sieht Gelb. 1994 wurde Gelb zur Tagesspiegel-Farbe.
Ein Blatt sieht Gelb. 1994 wurde Gelb zur Tagesspiegel-Farbe.

© Tagesspiegel

Eine geradezu revolutionäre Erneuerung war die Einteilung des Tagesspiegels in vier „Bücher“, wie wir das nannten. Politik, Berlin, Wirtschaft & Sport sowie Kultur mit in der Regel Wissen & Forschen und den Medien. Plötzlich hatte die Zeitung eine eiserne Ordnung, konnte am Frühstückstisch je nach Vorliebe geteilt werden: Der oder die eine liest die Politik zuerst, die oder der andere die Kultur oder umgekehrt. Weitere Seiten wie die Meinungsseite oder die wöchentliche Seite Kunst und Markt kamen hinzu.

Das Ziel: visuelle Akzeptanz

Als größte Herausforderung sah es Mario Garcia, „eine visuelle Akzeptanz in eine Zeitung zu bringen, die bislang stark textorientiert gestaltet worden ist“. Typografie spielte für ihn dabei eine entscheidende Rolle. Die Grundschrift wechselte von der Candida zur Gulliver, die der Niederländer Gerard Unger für den Tagesspiegel entworfen hatte. Von ihm stammte auch die Schrift auf den Fünf-Cent-Münzen und auf den Schildern der Amsterdamer Metro. Für die Überschriften nutzte man die Palatino, fett für Nachrichten, mager für Hintergrundberichte. Persönlich gefärbte Artikel wie Reportagen und Porträts bekamen die kursive Gulliver und der Sport die dynamische Futura, etwas fetter und ohne Schnörkel.

„Unabdingbar sind Beiträge zur Meinungsbildung, zur Diskussion, zur Auseinandersetzung in der Gesellschaft. Im Gewand von gestern kann das die Zeitung heute nicht mehr leisten“, schrieb Projektleiter Thomas Brackvogel 1994. „Sie muss sich, was Übersichtlichkeit, Illustration und Präzision der Information betrifft, in der Welt von heute bewegen, ohne die gewohnte Qualität preiszugeben“, präzisierte er.

Insgesamt wirkte die Zeitung sortierter, aber die Überschriften waren, aus heutigem Blickwinkel betrachtet, dominant und das Gelb wollte auf Zeitungspapier nicht so recht funktionieren.

Ab 1999 wird die Leitfarbe Rot

Die Welt drehte sich in den 90er Jahren schneller, der Medienkonsum wandelte sich. Ja, auch Schulbücher veränderten sich, setzten mehr auf Bild und Grafik, der Textanteil ging zurück – das prägte die Seh- und Lesegewohnheiten der Zeitungsleser von morgen. Die Abstände bei der Neugestaltung wurden kürzer. Unter dem neuen Chefredakteur Giovanni die Lorenzo wurde 1999 das bestehende Layout behutsam überarbeitet. Auffälligste Veränderung: Die Leitfarbe war von nun an Rot, und in der Zeile über dem Titel wurde schon ein wichtiges Thema in Versal-Buchstaben angekündigt, im internen Jargon „die rote Zeile“. Die Promoleiste verschwand, dafür erschien in der ersten Spalte ein Inhaltskasten mit kurzen Hinweisen, auch mal einer Grafik in Farbe.

Ausgezeichnete Entwicklung. Die „bestgestaltete Zeitung der Welt“ von 2004.
Ausgezeichnete Entwicklung. Die „bestgestaltete Zeitung der Welt“ von 2004.

© Tagesspiegel

Der Akzent in der Zeitungsgestaltung verschob sich eindeutig in Richtung Visualisierung. Da die Anforderungen in diesem Bereich immer größer wurden, bekam der Tagesspiegel 1999 eine Artdirektion unter Ulla Dahmen. Damit erhielt die Redaktion bei der Gestaltung der Zeitung Unterstützung von Profis, denn nicht jeder Redakteur ist auch ein guter Artdirektor. Aus dem Weltspiegel wurde der „Sonntag“ mit einem magazinigeren Auftritt: große Bilder, große Überschriften, viel Gestaltungsspielraum. Ein Abschied vom klassischen Zeitungsdesign.

Der Tagesspiegel ist der Tagesspiegel. Alles andere ist alles andere.

Winfried Fest, ehemaliger Sprecher des Berliner Senats

Doch damit nicht genug, 2001 wurde die Sonntagsausgabe des Tagesspiegel als Zeitung „Am Sonntag“, wie es unter der Weltkugel in Rot hieß, deutlicher gekennzeichnet - mit Blick auf den gesamtdeutschen Markt, der die Sonntagszeitung erst mühsam einführen musste, etwas, das der Tagesspiegel von Beginn an hatte.

Der Tagesspiegel wird zur bestgestalteten Zeitung der Welt gewählt

„Nur wer sich ändert, bleibt sich treu“, hieß die Überschrift zur Beilage aus Anlass eines erneuten Relaunches 2004, der im Wesentlichen die Weichen für das Aussehen des Tagesspiegel stellte, wie wir ihn bis heute kennen. Die rote Zeile verschwand, dezente unterlegte Promofelder in Beige und Hellblau unter dem Zeitungskopf boten und bieten ein freundlicheres Aussehen. Der Einsatz von Farbe erleichtert die Orientierung, farbig unterlegte Infografiken wurden immer wichtiger. Als Grundschrift wurde die Poynter eingeführt, „die jetzt nicht so gequetscht wirkt wie unsere alte Gulliver“, wie es 2004 hieß. Dabei wurde die erst 1994 eingeführt.

Für die Überschriften wurde die California gewählt. Die zweite Seite stellte von nun an die „Fragen des Tages“. Für diese neue Gestaltung wurde der Tagesspiegel von der New Yorker Society for News Design als „World’s Best-Designed Newspaper“ ausgezeichnet.

Neuzeit. Der Tagesspiegel im Jahr 2021.
Neuzeit. Der Tagesspiegel im Jahr 2021.

© Tagesspiegel

Auch der Sonnabend musste gestärkt werden – 2011 mit der Beilage „Mehr Berlin“, die es in dieser Form auf dem deutschen Zeitungsmarkt so auch noch nicht gegeben hatte, mit einem Kunstwerk auf der ersten Seite und einer Panorama-Seite zu einem Berlin-Thema in der Mitte.

Der Tagesspiegel war und ist ständig in Bewegung, erst langsam, dann immer schneller. Die Dominanz des Textes gegenüber dem Bild ist einer Balance gewichen. Hintergrund und Analyse wurden in Zeiten schneller Nachrichtenübermittlung immer wichtiger. Und so wird es bleiben, wenn der Tagesspiegel jetzt ein neues Kapitel aufschlägt. Und auch dann gilt das inzwischen geflügelte Wort des ehemaligen Senatssprechers Winfried Fest: „Der Tagesspiegel ist der Tagesspiegel. Alles andere ist alles andere.“

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