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1998: Christoph Schlingensief und seine Fans wollen den Wolfgangsee Richtung Helmut Kohl zum Überlaufen bringen.

© picture-alliance / dpa

Porträtfilm über Christoph Schlingensief: Erinnern heißt vergessen

„Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien“: Ein ARD-Film porträtiert den Ausnahmekünstler.

Die Frage ist eigentlich überflüssig, und doch geht sie einem nicht aus dem Kopf. Wie hätte sich Christoph Schlingensief in die documenta fifteen, ihren Antisemitismus und der angeschlossenen Aufarbeitung eingemischt? Hätte er bestimmt getan, kann er natürlich nicht: Christoph Schlingensief ist 2010, mit nur 49 Jahren, an Krebs gestorben.

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Bei der Documenta 1997 in Kassel haute der Aktionskünstler, der zugleich Theater-, Opern- und Filmregisseur war, mächtig auf den Putz. Sein plakatierter Aufruf „Tötet Helmut Kohl“ provozierte einen Eklat inklusive Polizeieinsatz. Ein Jahr später forderte er alle Arbeitslosen in Deutschland auf, mit ihm im Wolfgangsee schwimmen zu gehen, um das Gewässer am österreichischen Feriendomizil Kohls zum Überlaufen zu bringen. Zum Happening kamen rund 100 Anhänger seiner Partei „Chance 2000“. Der See ruhte still.

Aber das konnte Schlingensief nicht stoppen, so wenig wie eine erste Ablehnung an der Münchner Filmhochschule. Auch ein zweiter Versuch scheiterte – Schlingensief blieb ohne akademische Weihen, dafür verwandelte sich Bekanntheit in Anerkennung, ja Ruhm.

[„Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien“, ARD, Mittwoch, um 22 Uhr 50]

In der ARD baut Bettina Böhler mit „Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien“ ein filmisches Denkmal. Die Materialfülle muss ungeheuer sein, der Apothekerssohn aus Oberhausen war so produktiv wie innovativ, aus ihm spieen die Objekte und Projekte wie aus einem Vulkan. Der Porträtfilm versucht und schafft es, dieser Vielfalt gerecht zu werden.

„Ich mache ja Regie“, sagte der noch ziemlich junge Schlingensief, nachdem er seine ersten, bereits sehr experimentellen Szenen abgedreht hat. „Ich habe meinen Vater gefragt, ob ich die Kamera mal haben kann. So habe ich '68, als die anderen demonstriert haben, den ersten Widerstandsfilm gedreht“, erinnert er sich später. Auch in Böhlers Film, die Cutterin hat mit Schlingensief gearbeitet, scheint Schlingensief die Regie nicht abgeben zu wollen. Aus dem Material zahlreicher Interviews setzen sich seine Einschätzungen über sein Leben zusammen. „Ich habe immer aus einem positiven Dilettantismus die Filme produziert.“ Die Perspektive sei das Hauptmerkmal: „Was passiert, wenn sich Dinge übereinanderlegen, die nichts miteinander zu tun haben?“

Kunst für die Öffentlichkeit

Seine Arbeiten sind immer Explorationen, ästhetische Entwürfe, häufig geht es um das Überschreiben von Realismen, Tiefenbohrungen, getrieben von den eigenen Ängsten und Obsessionen, aber auch von Ängsten und Obsessionen älterer Generationen. Schlingensief findet dafür die Formel: „Erinnern heißt vergessen!“

Viele seiner Arbeiten sind nicht an die Kunst- und Galerienwelt adressierst, sondern an die Öffentlichkeit: In Wien stellte Schlingensief 2000 Container vor die Staatsoper, wo das Publikum täglich einen Ausländer zum Abschieben auswählen durfte. Als Ableitung eines TV-Quiz ließ er 2002 in der Berliner Volksbühne Aufgaben stellen: „Ordnen Sie folgende Konzentrationslager von Nord nach Süd“. Frank Castorfs Haus verschaffte ihm in den 1990er Jahren den Durchbruch als Theaterregisseur mit Inszenierungen wie „100 Jahre CDU“ oder „Rocky Dutschke, 68“. Sein subversiver „Parsifal“ in Bayreuth wird gefeiert. Nahe von Ouagadougou in Burkina Faso begann er ein Operndorf zu bauen. Für ihn selbst „ein Projekt, wo Kunst und Leben zusammengehen“.

In Venedig setzte Schlingensief 2003 traumatisierte Pfahlsitzer auf scheinbar sichere Baumstämme. Schon schwer krank, sollte er acht Jahre später den Deutschen Pavillon gestalten. Er starb noch vorher. Der Goldene Löwe dafür wurde zur posthumen Ehrung. Seine Krebserkrankung wurde zu einem ergreifenden Tagebuch: „So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!“

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