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Englands berühmter Romancier störte sich schon in den 1860er Jahren an etwas, was den Menschen im 21. Jahrhundert auf die Nerven geht: Weihnachten bricht immer früher aus.

© Promo/Dickens Museum

Romancier und Geschäftsmann: Warum Charles Dickens eine Mitschuld am Weihnachtskitsch trägt

Der weltberühmte britische Autor kritisierte den Konsumrummel ums Weihnachtsfest. Dabei profitierte er selbst davon. Eine Ausstellung gibt Einblick.

Längst säumen Christbaumverkaufsstände die Straßen der Vorstädte, versprechen Supermärkte saftige Rabatte, beschallen Kaufhäuser die Kundschaft mit öligen Melodien. Christmas ist auch auf der britischen Insel schon im November ein riesiges Kommerzspektakel.

Wenn man einem weltberühmten Autoren Glauben schenkt, hat sich an der Situation in den vergangenen 150 Jahren wenig geändert. „Ich habe die Sache gründlich satt“, schrieb Charles Dickens (1812-70) in den 1860er Jahren einem Freund. In einem Stoßseufzer an seinen Verleger schob er einige Jahre später eine Begründung nach: „Mir fällt nichts ein, was keine Wiederholung wäre der immergleichen alten Geschichten, erzählt auf stümperhafte alte Weise und zu Tode imitiert von allen anderen Publikationen.“

Englands berühmter Romancier („Oliver Twist“, „Große Erwartungen“) störte sich schon damals an etwas, was den Menschen im 21. Jahrhundert auf die Nerven geht: Weihnachten bricht immer früher aus und gerät viel zu oft zu einer furchtbaren Kitschveranstaltung. Eine hübsche Ausstellung im Londoner Dickens-Museum weist nun augenzwinkernd darauf hin, dass der Autor der über alle Maßen kitschigen „Weihnachtsgeschichte“ eine erhebliche Mitschuld am sentimentalen Overkill trägt. Schon vor der Veröffentlichung von Scrooge Ebenezers wundersamer Wandlung 1843 und erst recht danach befeuerte der Autor das stetig wachsende Geschäft rund ums Winterfestival. Professor Simon Eliot von der Universität London fasst es knapp zusammen: „Dickens war Geschäftsmann, er kannte den Markt ganz genau.“

In diesem Stadthaus lebte Dickens in den 1830er Jahren. Heute befindet sich hier ein Museum.
In diesem Stadthaus lebte Dickens in den 1830er Jahren. Heute befindet sich hier ein Museum.

© Promo//Dickens Museum

Wir treffen den Experten für die Geschichte von Buchdruck und Verlagswesen im Haus Doughty Street Nummer 48 im Londoner Stadtteil Bloomsbury. Es dient seit 1924 der Erinnerung an den weltberühmten, wenn auch nur kurzzeitigen Bewohner; inzwischen gehört auch Hausnummer 49, in der damals der Anwalt des Autors lebte, zu dem kleinen, aber feinen Museum.

Ausstellung gibt Dickens Mitschuld an festlichem Kitsch

Dieser Tage erstrahlen die normalerweise abgedunkelten Räume, vom Speisezimmer im Erdgeschoss über den Arbeitsraum im ersten Stock bis zu den Schlafzimmern unterm Dach, im Festtagsglanz. „Schöne Bücher – Dickens und das Weihnachtsgeschäft“ lautet der Titel der Ausstellung, mit der Direktorin Cindy Sughrue ihr Idol feiert und gleichzeitig ein wenig auf die Schippe nimmt.

Am Beispiel des ungeheuer produktiven Schriftstellers und seiner Konzentration auf Weihnachten lernen Besucher viel über Dickens selbst, aber auch über die veränderten Bedingungen des Verlagswesens und die enorm zunehmende Bedeutung der bürgerlichen Familie und ihrer Rituale in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Schon 1836 handelte ein Sketch vom „Christmas Dinner“. Das Fest diene als „jährliche Versammlung aller verfügbarer Verwandter“, schrieb Dickens, und die Kinder würden sich „zwei Monate im Voraus“ darauf freuen. Auch in den Pickwick Papers spielen Weihnachtsrituale eine Rolle.

Die „Weihnachtsgeschichte“ selbst erschien am 19. Dezember 1843. Bis zum Fest war die Erstauflage von 6000 Stück vergriffen, im darauffolgenden Jahr folgten fünf weitere Auflagen. Vier weitere Weihnachtsbücher schrieb Dickens selbst, veröffentlichte zudem Sammlungen von Geschichten zum hohen Fest in seinen Magazinen. „Ich will keine Lücke entstehen lassen“, begründete der Autor seine geschäftstüchtige Konzentration auf das immer wichtiger werdende Familienfest. Begünstigt wurde der Absatz von Dickens Büchern von einer Veränderung im Verlagsgeschäft.

Im gleichen Jahr 1843 wie Dickens' berühmte „Weihnachtsgeschichte“ entstand auch die erste Grußkarte zu den Festtagen.
Im gleichen Jahr 1843 wie Dickens' berühmte „Weihnachtsgeschichte“ entstand auch die erste Grußkarte zu den Festtagen.

© Promo//Dickens Museum

Galt zu Beginn des 19. Jahrhunderts das Frühjahr als wichtigste Verkaufsperiode, erleichterte die Eisenbahn die Reichweite, führten Wohlstand und bessere Schulbildung in Teilen der Bevölkerung zu größerer Nachfrage nach Lesestoff. In den 1840er Jahren gewann das Jahresende zunehmend an Bedeutung, von der Mitte des Jahrhunderts an konzentrierte sich das Bemühen der Verlage auf die Wochen vor Weihnachten.

Tüchtiger Geschäftsmann

Das Museum zeigt die erste, 1843 entstandene Grußkarte zu den Festtagen, die bald zum Repertoire der englischen Mittelschicht gehörte. Die bis heute vorherrschenden Motive – tiefverschneite Dörfer, putzige Postkutschen, idyllische Landschaften – waren schon zu Dickens Lebzeiten rückwärtsgewandt, korrespondierten jedoch mit Szenen aus Dickens Werken. Seine Werke zielten auf die Sehnsucht seines sentimentalen Publikums an.

Wie sehr sich die Haltung des tüchtigen Geschäftsmanns unter dem Eindruck persönlicher Eindrücke im Lauf der Zeit wandelte, wird im Museum schön dokumentiert. Hatte der 24-Jährige seine Leser noch beschworen, ausgerechnet an Weihnachten „nicht über der Vergangenheit zu brüten“, sprach er 16 Jahre später, den Tod mehrerer Familienmitglieder vor Augen, ausdrücklich vom Freudenfest als Gelegenheit zur Erinnerung, nicht zuletzt an die Verstorbenen.

Gegen Ende seines Lebens mochte Dickens dann am liebsten gar nichts mehr beitragen zum Festtagsrummel. Da sei der Autor nämlich „furchtbar gelangweilt“ gewesen von Weihnachten, erzählt Professor Eliot und lacht fröhlich.

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