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Chiles Präsident Gabriel Boric ist ein Jahr im Amt.

© Picture Alliance/Associated Press

Chiles Präsident Boric ein Jahr im Amt: Ein Hoffnungsträger, der keiner mehr ist

Eine neue Verfassung und ein echter Sozialstaat: Gabriel Boric wollte als bisher jüngster Präsident sein Land von Grund auf verändern. Doch viele Chilenen sind enttäuscht.

Zeitungen nannten ihn „die Erneuerung Chiles“, er selbst sprach nach seinem Wahlsieg von einem „historischen Moment“ für sein Land. Ende 2021 wurde Gabriel Boric zum neuen Präsidenten gewählt. Es war ein Sieg für den progressiven Teil des lateinamerikanischen Landes, der vor allem eines wollte: radikale Veränderungen.

Boric plante, aus Chile einen Sozialstaat zu machen und die politische Vertrauenskrise im Land zu überwinden. Ein Jahr ist der jüngste Präsident Chiles nun im Amt. Von „Erneuerung“ spricht heute kaum noch jemand.

Anfangs besetzte Boric seine Regierung mit neuen, jungen Kräften ohne Politikerfahrung – ein Bruch mit der Politelite, die das Land traditionell regierte. Das Durchschnittsalter seines ersten Kabinetts lag bei 49 Jahren, es bestand aus 14 Ministerinnen und zehn Ministern, acht waren parteilos.

Ein Sozialstaat nach europäischem Vorbild

Nach den sozialen Protesten 2019, die monatelang anhielten, sollte das Land außerdem eine neue Verfassung bekommen. Boric selbst hatte diesen Deal, damals noch als Abgeordneter, mit der Vorgängerregierung ausgehandelt. Die aktuelle Verfassung ist von 1980, stammt also aus der Zeit der Militärdiktatur Augusto Pinochets.

Viele Protestierende drängten auf einen neuen, demokratisch legitimierten Staatsvertrag. Und, damit einhergehend: ein Ende der sozialen Ungleichheit und des neoliberalen Wirtschaftssystems.

Boric wollte Chile zu einem Sozialstaat nach europäischem Vorbild machen. „Er hat dafür auf die neue Verfassung spekuliert, viele Gesetzesvorhaben von ihr abhängig gemacht“, sagt Daniela Campos Letelier, Politologin an der Universidad Andrés Bello in Santiago. „Denn mit der aktuellen Verfassung ist der Staatsumbau, den Borics Regierung sich wünscht, unmöglich.“

Ein Jahr lang schrieb eine vom Volk gewählte Versammlung an dem Staatsvertrag. Es sollte unter anderem soziale Rechte, Gleichberechtigung von Frauen, mehr Umweltschutz und der indigenen Bevölkerung eine Selbstverwaltung garantieren.

Dann kam Borics erste große Niederlage. In einem Volksentscheid am 4. September 2022 wurde die neue Verfassung von einer deutlichen Mehrheit von 61 Prozent abgelehnt. Der Präsident musste umdenken, Minister:innen entlassen, Kompromisse eingehen, auch mit der Rechten und der traditionell moderaten Linken des Landes. Das Motto: weniger Idealismus, mehr Pragmatismus.

„Neue Verfassung oder nichts“ steht auf dem Tuch dieses Demonstranten von 2019. Boric wollte dem Volk diese Forderung erfüllen.
„Neue Verfassung oder nichts“ steht auf dem Tuch dieses Demonstranten von 2019. Boric wollte dem Volk diese Forderung erfüllen.

© AFP/PEDRO UGARTE

„Damit hat er nicht nur die Erwartungen seiner Wähler:innen enttäuscht, sondern auch seine eigenen“, sagt Campos Letelier. Staatschef Boric begann seine politische Karriere vor zwölf Jahren auf der Straße, als Anführer der Studentenbewegung. Er selbst bezeichnete sich als Idealist.

Einige haben es so interpretiert, dass die Chilen:innen keinen radikalen Systemwechsel wollen.

Francisca Quiroga, Politikwissenschaftlerin.

„Als Präsident musste Boric seinen Regierungsplan anpassen und lernen, dass er mit der Opposition reden muss, um politische Mehrheiten zu erreichen“, sagt die Politikwissenschaftlerin. Seine Partei hat keine Mehrheit im Parlament. Die nach Borics Wahlsieg zunächst geschwächten, rechten Parteien haben das Scheitern des Volksentscheids als einen Sieg für sich verstanden.

„Einige haben es so interpretiert, dass die Chilen:innen keinen radikalen Systemwechsel wollen“, sagt Francisca Quiroga, Politikwissenschaftlerin und Leiterin des unabhängigen chilenischen Mediums „La Voz De Los Que Sobran“. Diese vermeidliche Stimmung nutzt die Opposition, um Borics Reformprojekte scheitern zu lassen.

Die Menschen fühlen sich von der Politik betrogen und von den Parteien nicht vertreten.

Guillermo Holzmann, chilenischer Politikberater.

So brachten Borics politische Gegner ihm seine zweite, große Niederlage ein. Mitte März lehnte sie eine Steuerreform der Regierung ab. Mit den daraus entstehenden Einnahmen sollte die Grundrente erhöht, das Gesundheitssystem reformiert und in das Bildungssystem investiert werden. Ohne eine neue Verfassung und diese Reform sind Boric jetzt die Hände gebunden.

Mehr Vertrauen in den Staat

Als der junge Politiker 2022 an die Macht kam, steckte das Land in einer tiefen Krise. Die Proteste und die Verfassungsfrage hatten Chile gespalten. Die Militärdiktatur endete vor 30 Jahren, seitdem hat sich das Land demokratisiert. Zugleich hat sich die soziale Ungleichheit aber verschärft. „Die Menschen fühlen sich von der Politik betrogen und von den Parteien nicht vertreten“, sagt der chilenische Politikberater Guillermo Holzmann.

Boric möchte dem Misstrauen mit Nahbarkeit entgegentreten. Er fliegt mit seiner Freundin demonstrativ per Linienflug in den Urlaub, postet in den sozialen Netzwerken Fotos mit seinem Hund, zog nach Amtsantritt in das Arbeiterviertel Yungay in der Hauptstadt Santiago.

Aber Boric hat viele Wahlversprechen gebrochen. Er wollte zum Beispiel die Polizei reformieren, die durch ihre gewaltsame Reaktion auf die Protestierenden und Menschenrechtsverbrechen 2019 viel Hass der Bevölkerung auf sich gezogen hat. Allerdings sieht der Präsident sich mit einem Sicherheitsproblem konfrontiert.

Die Gewaltkriminalität im Land steigt an. Einer Studie zufolge sind Kriminalität und Sicherheit die zentralen Themen, die Chilen:innen in erster Linie umtreiben. Zwei Jahre zuvor waren Armut und soziale Ungleichheit auf Platz eins.

„Statt die Polizei zu reformieren, erhöht Boric nun ihr Budget“, sagt Holzmann. Gleiches gilt für die gewaltsamen Konflikte im Süden des Landes, auf dem Gebiet der indigenen Mapuche. Boric wollte die Region befrieden und den Dialog suchen. Stattdessen hat er dort mehr Militär stationiert und in mehreren Teilen den Ausnahmezustand ausgerufen.

„Er macht genau das, was er in der vorherigen Regierung kritisiert hatte“, sagt Holzmann. Zwar reagiert er damit auf eine veränderte Stimmung in der Bevölkerung, verspielt allerdings zugleich viel Vertrauen. Nach einer „Erneuerung“ sieht es jedenfalls nicht mehr aus.

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