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© Tagesspiegel / European Focus

European Focus #24: Auf dem Pfad der Unfreiheit

Zahl der Woche: 711 +++ Versuchter Schlag gegen die Pressefreiheit +++ Wie privat ist Trauer in Kriegszeiten? +++ Unerreichbar +++ Inside Radio Vatikan

Hallo aus Tallinn, 

Journalistinnen und Journalisten schreiben meist nicht über ihren eigenen Beruf. Auch heute würden wir dies lieber nicht tun – doch aktuelle Ereignisse zwingen uns dazu. 

Vor zwei Wochen kam die italienische Polizei in die Redaktion von Domani, dem European Focus-Partner in Italien. Das Ziel dieser Maßnahme scheint gewesen zu sein, die Reporter abzuschrecken, bestimmte Themen zu recherchieren, die der italienischen Regierung offenbar unangenehm sind.

Dies ist kein Einzelfall. Die Pressefreiheit und die Sicherheit von Journalistinnen und Journalisten werden oft bedroht, selbst in Ländern mit einer funktionierenden Demokratie. Erinnert sei an die BBC, die alles andere als „pleased“ mit den Kommentaren ihres Sport-Moderators Gary Lineker in den sozialen Netzwerken war. Ohne wirklich freie Medien kann eine Demokratie aber nicht funktionieren.

​​ Sogar hier in Estland – das auf dem Pressefreiheitsindex 2022 auf Platz vier stand – ist die Presse hin und wieder Angriffsziel. Im vergangenen Jahr versuchten Staatsanwälte, Journalisten mit Geldstrafen zu belegen, sofern diese ohne Genehmigung der Staatsanwaltschaft bestimmte Stories veröffentlichten.

Ich hoffe, dass unsere heutige Beitragsauswahl einen guten Überblick und Mittelweg bietet, um auf bestehende Probleme, aber auch auf die Verantwortung der Presse aufmerksam zu machen.

Holger Roonemaa, dieswöchiger Chefredakteur

Zahl der Woche: 711

Am 20. März 2023 ist Olivier Dubois, Journalist und unser Kollege bei Libération, nach 711 langen Tagen der Gefangenschaft freigekommen. Er wurde 711 Tage zuvor von der sogenannten Gruppe für die Unterstützung des Islams und der Muslime (auf Arabisch abgekürzt JNIM) gekidnappt. Dubois berichtete aus Gao in Nord-Mali.

711 Tage wurde er irgendwo in der Sahelzone festgehalten. 711 Tage war er die weltweit einzige bekannte französische Geisel. 711 Tage vermisste der zweifache Familienvater seine Familie, seine Freunde und seine Kollegen. 711 Tage vermisste der Journalismus ihn. 711 Tage des Schweigens, der Angst und der Hoffnung. 711 Tage zu viel.

Léa Masseguin ist Journalistin in der Auslandsredaktion der französischen Zeitung Libération aus Paris.

Versuchter Schlag gegen die Pressefreiheit

Am 3. März stand die Polizei in der Redaktion von Domani. Die Beamten hatten die ungewöhnliche Aufgabe, einen Artikel über Claudio Durigon, seinerseits Staatssekretär im Regierungsteam von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, zu beschlagnahmen.

Die Autoren des Artikels, Giovanni Tizian und Nello Trocchia, sind renommierte Reporter, die häufiger über die Verflechtungen zwischen Politik und organisiertem Verbrechen berichten. Sie stehen beide unter Polizeischutz. Man würde also erwarten, dass die italienischen Behörden sie und ihre Arbeit schützen. Stattdessen kamen sie, um diese Arbeit zu beschlagnahmen.

„Es war absolut surreal,“ so Mattia Ferraresi, leitender Redakteur von Domani, wo auch ich als Journalistin arbeite. Er musste den Artikel für die Polizei ausdrucken. Durigon hatte uns wegen dieses Artikels verklagt, diesen allerdings nicht einmal seiner Klage beigefügt. Darüber hinaus war der Artikel online jederzeit öffentlich zugänglich.

„Es gab keinerlei Notwendigkeit, eine Razzia durchzuführen. Hier geht es um Einschüchterung!,“ sagt Ricardo Gutiérrez, Generalsekretär der Europäischen Journalisten-Föderation (EJF). Es ist bereits das zweite Mal innerhalb weniger Monate, dass Gutiérrez in Bezug auf Domani Alarm schlägt: Im vergangenen Herbst verklagte Giorgia Meloni meinen Chefredakteur Stefano Feltri sowie meinen Kollegen Emiliano Fittipaldi. Gutiérrez kritisierte diese „SLAPPs“ (Strategic lawsuits against public participation, dt. etwa: Strategische Klagen gegen gesellschaftliche Einmischung/Beteiligung) und die Aktionen der Regierung gegen die freie Presse.

„Jedes Mal, wenn wir über Durigon schreiben, verklagt er uns,“ fasst Trocchia zusammen. „Bisher war das acht Mal der Fall.“ Als die Polizei Anfang März anrückte, war Tizian gerade auf dem Weg in die Redaktion. Trocchia informierte seinen Kollegen per Telefon: „Komm schnell, die Polizei ist da!“ Tizians erster Gedanke war, die Quellen zu schützen: „Lasst sie nicht an unsere Computer!“

Als Reaktion auf die Razzia hat eine Vereinigung von Organisationen, die sich für Medienfreiheit einsetzen, eine Warnung ausgesprochen. Progressive Fraktionen im Europäischen Parlament (S&D, Grüne, Linke, Renew Europe) bekundeten ihre Solidarität. Die Europaabgeordnete Sophie in’t Veld richtete mehrere Anfragen an die EU-Kommission.

Am 15. März erklärte die Anwaltschaft in Rom dann, die Beschlagnahmung des Artikels sei unzulässig und rechtswidrig gewesen. Für mich zeigt sich dadurch, wie wichtig es war, eine starke europaweite Mobilisierung gegen dieses Vorgehen hinter sich zu wissen.

Francesca De Benedetti berichtet für die Zeitung Domani aus Rom über europäische Politik und Auslandsnachrichten.

Wie privat ist Trauer in Kriegszeiten?

Alina Mychailova am Grab ihres Verlobten Dmytro Kotsyubailo. (Das Foto wurde von Alina selbst online geteilt)
Alina Mychailova am Grab ihres Verlobten Dmytro Kotsyubailo. (Das Foto wurde von Alina selbst online geteilt)

© Ukrainisch-Griechische Katholische Kirche

Zu sehen ist Alina Mychailova, die Verlobte des ukrainischen Soldaten Dmytro Kotsyubailo. Er war unter dem Rufnamen Da Vinci bekannt und galt als einer der talentiertesten und angesehensten jungen Offiziere in der ukrainischen Armee. Kürzlich ist er in einem Gefecht bei Bachmut gefallen. Bei seiner Beerdigung am 10. März knieten der ukrainische Präsident, der Oberbefehlshaber, der Verteidigungsminister und tausende andere Ukrainerinnen und Ukrainer nieder – als Zeichen des höchsten Respekts gegenüber Kotsyubailo.

Bei der Beerdigung wurden zahlreiche Fotos gemacht. Diese herzzerreißenden Bilder der trauernden Frau gingen viral und lösten dadurch in der ukrainischen Gesellschaft eine Debatte aus: Wie ethisch ist die Berichterstattung und Medialisierung von psychisch und emotional fordernden Momenten von Menschen in einer solchen Situation wie Alina? Die eine Seite sieht Alina als Opfer, deren Recht auf Privatsphäre verletzt wurde. Die andere Seite, darunter viele Pressevertreter, beharrt hingegen darauf, dass im Kriegszustand derartige Trauerbekundungen ein wichtiger Teil der Berichterstattung sind. Es sei daher angemessen und sogar notwendig, solche Bilder der Weltöffentlichkeit zu zeigen.

„Ich sehe [diese Bilder] – und in meinem Inneren fühle ich, dass die Ukrainer existieren und ich zu ihnen gehöre, ein Teil von ihnen bin. Die Frau auf dem Foto macht uns alle zu einem gemeinsamen, lebendigen, pulsierenden sozialen Körper,“ schrieb die Kunstkuratorin Olena Tschervonyk in einem viel gelesenen Artikel. Die Anwältin Laryssa Denysenko hingegen erwiderte: „Es ist durchaus möglich, sein Ukrainischsein auf andere Weise zu pflegen. Ein Mensch hat das Recht auf Leben und Tod, das auch unter solchen Umständen respektiert werden muss. Hier wird etwas Privates gezeigt: Es ist nicht mein Schmerz, nicht mein Trauma, nicht meine Privatsphäre.“

Alina Mychailova selbst ist ebenfalls Soldatin und Politikerin. Sie wird ihre eigenen Gedanken zu diesem Thema haben. Geteilt hat sie diese noch nicht. Sie verbringt jeden Tag viele Stunden am Grab von Dmytro.

Anton Semischenko ist Redakteur bei der englischsprachigen Version der Nachrichten-Website babel.ua aus Kiew.

Unerreichbar

„Mann, siehst du nicht, dass ich gerade aus der Kirche komme?“
„Mann, siehst du nicht, dass ich gerade aus der Kirche komme?“

© Karolina Uskakovych

Was kann ein Journalist tun, wenn ein Premierminister der unabhängigen Presse seit 13 Jahren alle Interviews verweigert? Ihn sonntags vor der Kirche ansprechen. Und was sagt ein solcher Premierminister? „Mann, siehst du nicht, dass ich gerade aus der Kirche komme?“

Das war jedenfalls die Antwort des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán an einen bekannten Journalisten, die sofort zu einem Meme wurde, mit dem inzwischen alles von Korruption bis zur mangelnden Pressefreiheit in Ungarn verspottet wird.

Jemanden nach der Sonntagsmesse anzusprechen, mag unhöflich erscheinen. Faktisch haben ungarische Journalisten aber keine andere Wahl. Von Pressekonferenzen ausgeschlossen zu werden und keine Antworten auf Fragen zu erhalten, ist für Reporter, die nicht der Linie der Regierungspartei Fidesz folgen, alltägliche Realität. Einige wurden sogar mit der Überwachungssoftware Pegasus ins Visier genommen.

Auf die Frage, warum so etwas notwendig sei, hatte der Stabsleiter des Ministerpräsidenten einmal gesagt: Wer die Medien kontrolliert, kontrolliert das Land.

Es gibt aber eine Sache, die die Fidesz nicht kontrollieren kann: Witze.

Viktoria Serdült ist Journalistin beim Nachrichtenportal hvg.hu aus Budapest. Sie befasst sich mit der ungarischen Innen- und Außenpolitik, der Europäischen Union sowie sozialpolitischen Themen.

Inside Radio Vatikan

Papst Franziskus, ein Mann der (sozialen) Medien
Papst Franziskus, ein Mann der (sozialen) Medien

© Teresa Roelcke

Auch wenn in deutsche Journalist:innen immer wieder als “Staatsmedien” beschimpft werden – die meisten Leute hier haben gar keine Idee, was ein Staatsmedium wirklich wäre. Vor drei Jahren habe ich allerdings tatsächlich zwei Monate lang für ein Staatsmedium gearbeitet: für Radio Vatikan / Vaticannews, ein Online-Portal, das dem Vatikan gehört und Informationen über das Treiben des Papstes, den Vatikan und die katholische Lehre weltweit verbreiten soll, in vierzig Sprachen.

Von meiner Journalistenschule aus mussten wir mehrere Praxisstationen machen, und ich dachte, Radio Vatikan könnte ein interessanter Ort sein, um mein Handwerk zu lernen. Interessant war es ganz bestimmt, aber nicht so sehr, weil ich viel journalistisches Handwerkszeug gelernt hätte. Viel mehr habe ich über etwas anderes erfahren: über die Grenzen, an die Journalist:innen stoßen können.

Wahrscheinlich überrascht es nicht, dass ich mit meinem Bericht über die Glaubenskongregation nicht besonders weit gekommen bin. Die Glaubenskongregation ist die Nachfolgebehörde der Inquisitionsbehörde, für die Reinhaltung der katholischen Lehre zuständig. Ein Hintergrundgespräch fand zwar statt, führte aber zu eher wenig hintergründigen Informationen. Als ich danach zu einem konkreten anhängigen Verfahren eine Nachfrage schickte – die Verifizierung einer Marienerscheinung betreffend – bekam ich einen Rüffel zurück: mehr oder weniger mit dem Hinweis, dass ich als Praktikantin von Radio Vatikan doch eigentlich hätte eingewiesen werden müssen, dass ich über so kontroverse Themen nicht berichten solle.

Was ich aber überraschend fand: Es gab auch handfeste diplomatische Interessen des Heiligen Stuhls, die wir in der Berichterstattung berücksichtigen mussten. Menschenrechtsverletzungen in China? Schwierig. Der Papst versucht, für den Teil der Katholiken in China, die vom chinesischen Staat als quasi „offizielle” Kirche anerkannt sind, in Verhandlungen möglichst viele Sicherheiten herauszuholen. Um diese Verhandlungen nicht zu hintertreiben, erhielten wir Journalist:innen die Anweisung, Kritik an China zu vermeiden. Das schien mir dann doch ein recht weltliches Vorgehen.

Zurück in Deutschland war ich dann froh, dass ich mich endlich wieder den hehren Zielen des kritischen Journalismus’ verschreiben durfte.

Teresa Roelcke ist Journalistin beim Tagesspiegel aus Berlin.

Danke, dass Sie die 24. Ausgabe von European Focus gelesen haben. 

Ich fürchte, dass die Pressefreiheit für viele von uns eine Selbstverständlichkeit ist. Wie wichtig diese Freiheit ist, merken wir erst dann, wenn wir sie verloren haben. Dann ist es meist zu spät, um sie wieder herzustellen.

Wenn Ihnen diese Themen am Herzen liegen, dann verbreiten Sie sie bitte. Und wenn Sie selbst in Zukunft Versuche, die Pressefreiheit einzuschränken, beobachten – dann machen Sie bitte darauf aufmerksam. Damit helfen Sie uns allen.

Bis nächste Woche! 

Holger Roonemaa

Der Newsletter European Focus wird von der Europäischen Union finanziert. Die geäußerten Ansichten und Meinungen sind ausschließlich diejenigen der Autor:innen und spiegeln nicht notwendigerweise die der Europäischen Union oder von „Creative Europe“ wider. Weder die EU noch die ausstellende Behörde können für sie zur Verantwortung gezogen werden.

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