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Ein Kind läuft zwischen Zelten in einem schneebedeckten Lager für Binnenvertriebene in der Nähe der Stadt Afrin.

© picture alliance/dpa / Anas Alkharboutli

Nordsyrische Stadt Afrîn: „Meine Eltern wurden im Schlaf vom Erdbeben überrascht“

Auch die Stadt Afrîn ist von den Erdbeben in der Türkei und Syrien betroffen. Julîn K. lebt in Deutschland, stammt aber von dort. Hier berichtet sie von der Situation vor Ort.

Nach den Erdbeben vom 6. Februar sind auch in Afrîn viele Menschen obdachlos geworden. Eine kurdische Stadt im Nordwesten Syriens, die seit Januar 2018 unter der Kontrolle der türkischen Regierung und islamistischer Milizen steht.

Die Grenzregion zwischen der Südtürkei und dem Nordwesten Syriens wird seit zwölf Jahren vom Bürgerkrieg beherrscht. Die vom Erdbeben betroffenen Städte, wie Aleppo, Jindires und Afrîn, befinden sich mitten im Konfliktfeld.

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Nun hat der syrische Präsident Bashar al-Assad die beiden Grenzübergänge Bab Al-Salam und Al Ra’ee zwischen der Türkei und dem Nordwesten Syriens für einen Zeitraum von zunächst drei Monaten geöffnet.

Doch die Hilfsorganisationen, die aus den kurdischen Regionen im Nordosten Syriens kommen, müssen mindestens die Hälfte der Hilfsgüter an das syrische Regime abgeben, um weiterfahren zu können, wie Fee Baumann vom Kurdischen Roten Halbmond berichtet.

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Julîn K. (Name auf Wunsch der Protagonistin von der Redaktion geändert) lebte bis 2005 in Afrîn, heute ist sie in Deutschland und verfolgt mit Schrecken die Situation in ihrer Heimat. Ihre Eltern und ihre Schwester, die noch dort leben, glaubte sie tot, bis sie sich am dritten Tag nach dem Beben meldeten. Hier erzählt die Lehrerin von der aktuellen Lage:

„Meine Eltern erleben gerade eine Tragödie in Afrîn. Sie haben überlebt. Als sie mich am dritten Tag nach dem Erdbeben angerufen haben, war ich so erleichtert.

Meine Mutter sagte, dass mein Vater nur am Knie verletzt sei und lediglich ein paar blaue Flecken hat. Sie wurden im Schlaf vom Erdbeben überrascht. Meine Eltern sind schon älter, sie konnten nicht so schnell rausrennen. Aber sie haben es geschafft.

Die Nachbarschaft der Eltern von Julîn liegt in Trümmern.

© Mutter von Julîn K.

Ein Teil des Hauses meiner Eltern ist bei den Erdbeben eingestürzt, aber sie haben keine andere Wahl, sie müssen trotzdem dort wohnen. Sie können nicht einfach weg, dafür haben sie zu große Angst vor den bewaffneten Gruppen, die überall sind. Die meisten Familien, deren Häuser eingestürzt sind, schlafen immer noch im Auto. Auch eine Woche danach haben viele keine Zelte.

Milizen der sogenannten Syrischen Nationalen Armee, die von der Türkei unterstützt werden, sind in der Landschaft von Nord-Afrin, zu sehen.

© Khalil Ashawi

Bei der Hilfeleistung wird diskriminiert. Meine Familie berichtete mir, dass die Helfenden vor Ort bei der Essensverteilung nach der Ethnie trennen, Araber auf eine Seite und Kurden auf die andere beordern. Kurden bekommen dann kein Brot. Aber auch den Arabern wird nicht wirklich geholfen. Es gibt nicht die große Rettungsaktion.

Meine Mutter sagt, dass sie genügend zu essen haben, Reis zum Beispiel. Seit dem Krieg lagern sie immer vorrätig etwas. Aber Brot oder frisches Gemüse haben sie nicht.

Die Zivilisten, die gerade so überlebt haben, versuchten tagelang, die anderen Menschen aus den Trümmern zu retten. Sie hatten aber keine Ausstattung und sind keine Profis. Man hätte viele retten können.

Ich weiß nicht, wie ich helfen kann

Jetzt frage ich mich, wie die Leute dort weiterleben sollen. Die islamistischen Gruppen haben unsere Leute gewaltsam entwurzelt. Sie sagten damals: Wenn wir wollen, können wir euch alles wegnehmen und euch von hier wegschicken.

Dann sagten sie: Wir sind hierhergekommen, um euch zu Muslimen zu machen und euch von den Terroristen zu befreien - welche Terroristen? In Afrîn lebten vor der Besatzung fast nur alte Leute. Meine Schwester erzählte mir immer, wie sie den bewaffneten Gruppen Schutzgeld geben mussten. Sie sagten ihnen: Wir müssen euch beschützen. Aber vor wem? Die Stadt ist unter ihrer Kontrolle. Wir sind allein.

Türkische Soldaten in Afrîn. Die syrische Kurdenprovinz war 2018 besetzt worden.

© Lefteris Pitarakis/AP/dpa

Die Leute sagen, sie haben zwölf Jahre Krieg erlebt, aber dieses Erdbeben und die Situation gerade sind extrem. Sie haben Angst ohne Ende. Meine Mutter hatte vor Kurzem einen Herzinfarkt, mein Vater einen Schlaganfall. Auch vor dem Erdbeben gab es keine richtigen Ärzte. Die meisten sind vertrieben worden.

Nach den Erdbeben gab es auch Luftangriffe der Türkei in Tal Rifaat. Das ist in der Nähe von uns. Ich habe meine Mutter gefragt, ob sie Flugzeuge gesehen hat. Sie sagte, dass sie sie gesehen hat, aber dass sie alle dachten, es sei Hilfe gekommen.

Es gibt kein sauberes Wasser

Meine Schwiegereltern leben in Aleppo. Dort erleben die Menschen das gleiche Verhalten. In Aleppo haben sie die Hilfsgüter gestohlen, das Volk hat nichts bekommen.

Eine Freundin von mir lebt ebenfalls in Aleppo. Ich habe zu ihr gesagt: Aber ihr bekommt schon Hilfe, oder? Sie sagte nur ,Ach Julîn, was sagst du da, es ist Hilfe gekommen, aber wir haben nichts bekommen.’ Seit dem Erdbeben lebt sie auf der Straße. Ich erreiche sie seitdem nicht mehr, es gibt dort wahrscheinlich keinen Strom mehr.

Hilfsorganisationen werfen dem syrischen Präsidenten Bashar al-Assad vor, Hilfskonvois zu erpressen.

© Imago/Itar-Tass/Valery Sharifulin

Meine größte Sorge ist jetzt, wer sich um den Wiederaufbau kümmern wird. Es gibt gerade kein sauberes Wasser, keine Nahrung zu kaufen. Bestimmt tauchen bald Krankheiten auf. Ich bin mir sicher, dass weder das syrische Regime noch die türkischen Besatzungskräfte das Zerstörte aufbauen können.

Wir brauchen nicht nur Jacken und Essen. Wir brauchen Unterstützung bei der Bergung.

Julîn K. über die Situation ihrer Heimatstadt

Die Probleme konzentrieren sich vor allem auf uns Kurden. Wir sind ganz allein, niemanden interessiert es. Dabei waren wir da, als so viele Menschen aus anderen Teilen Syriens in den Norden geflüchtet sind. Meine Schwester und meine Eltern haben so viele Leute aufgenommen. Ich dachte, der Lohn für Gutes ist nur Gutes.

Es wurden nur Hilfsgüter aus der Autonomieregion Kurdistan reingelassen, aber auch erst nach zwei bis drei Tagen. Die Leute in Afrîn sagten: Wir brauchen nicht nur Jacken oder Essen. Wir brauchen Unterstützung bei der Bergung.

Kein einziges Geschäft ist offen

In größeren Städten wie Jindires ist die Situation viel schlimmer. Die Stadt ist am stärksten in der Region vom Beben betroffen. Wir hatten Familienfreunde in Jindires , viele von ihnen sind jetzt tot. Die Leute in unserer Stadt wollen Jindires helfen, obwohl sie selbst in einer schwierigen Situation sind.

Erst heute habe ich mit einer kurdischen Familie aus Afrîn gesprochen, die mit dem Auto nach Jindires gefahren ist. Sie wollten Essen und Decken für eine andere kurdische Familie dorthin bringen. Auf dem Weg wurden sie von bewaffneten Milizen angehalten und bedroht. Sie mussten zurückfahren.

Bei uns in Afrîn sieht die Situation auch nicht gut aus, aber in Jindires ist es wirklich sehr schlimm.  

Julîn K. über die Nachbarstadt Jindires

Die Überlebenden erzählen, dass die bewaffneten Gruppen dort viele Gebäude ohne Genehmigung gebaut haben. Meine Schwester erzählte mir von Ingenieuren, die noch nicht fertig studiert hatten und schon Häuser bauten. Sie selbst, auch Ingenieurin, durfte nicht mehr arbeiten, weil sie eine Frau ist. Bei uns in Afrîn sieht die Situation auch nicht gut aus, aber in Jindires ist es wirklich sehr schlimm.

Meiner Schwester macht auch ein Staudamm der Türkei am Euphrat Sorgen. Dieser sei nun wegen der Beben beschädigt, und wenn dieser bricht, bleibt keine einzige Stadt und kein einziges Dorf in Rojava mehr ganz.

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Ich weiß nicht, wie ich helfen kann. Die einzige Sache, die ich tun kann, ist Geld zu sammeln. Aber es kommt nichts an. Nach Aleppo, dort wo auch meine Schwiegereltern leben, kann Geld aus dem Ausland zwar verschickt werden, aber die Frage ist, ob es auch sicher bei ihnen ankommt. In Afrîn ist es unmöglich, weil die Bankkonten von den Milizen überwacht werden.

Meine Mutter sagt, es gibt keine Lebensmittel, kein einziges Geschäft ist offen. Die Stadt ist tot. Medikamente und Lebensmittel werden ja bald ankommen, ich hoffe es jedenfalls, aber wie sollen diese Menschen ohne psychische Hilfe weitermachen? Nach allem, was sie erlebt haben?“ Protokolliert von Büşra Delikaya

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