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Griechenland wird immer wieder vorgeworfen, Migranten zurück aufs Meer zu zwingen.

© REUTERS/stringer

Pushbacks in Griechenland: Das tägliche Sterben

Nach einem Bericht der „New York Times“ über die zweifelhaften Methoden, wie Griechenland Flüchtlinge abweist, ist die Kritik von Menschenrechtsorganisationen groß. Die Regierung in Athen treibt sogar minderjährige Flüchtlinge zurück aufs Meer.

Von George Tsakiris

Das Sterben vor Griechenlands Küste ist inzwischen Alltag: Ende vorletzter Woche ertranken die meisten der 17 Insassen, als ihr Boot vor der Touristeninsel Mykonos kenterte.

Ebenso wenig neu ist, dass die Regierung in Athen das Problem noch vergrößert. Mehrere NGOs und Medien weisen seit Langem auf die mittlerweile üblichen illegalen Pushbacks in Griechenland hin.

Doch vor Tagen wurde in einer der größten Zeitungen der Welt, der „New York Times“, ein eindeutiges Video veröffentlicht. Es zeigt, wie die griechische Küstenwache Menschen, darunter viele Kinder, im Meer zurücklässt.

Die Migranten sind darin zu sehen, während sie in einem nicht identifizierbaren weißen Lieferwagen zu einem abgelegenen Ort auf der Insel gefahren werden, bevor sie von Männern, deren Gesichtszüge durch Sturmhauben verdeckt sind, in ein schnelles Schlauchboot gezwungen werden. Das Schlauchboot bringt sie dann zu einem Schiff der griechischen Küstenwache, das sie auf einem Rettungsboot mitten auf dem Meer aussetzen soll.

Die EU-Kommissarin für Inneres, Ylva Johansson, forderte daraufhin eine unabhängige Untersuchung. „Es ist notwendig, dass die griechischen Behörden angemessene Folgemaßnahmen ergreifen, auch auf der Grundlage des neuen unabhängigen Überwachungsmechanismus“, sagte sie am 22. Mai in einem Tweet. Die Europäische Kommission sei bereit, „gegebenenfalls formelle Schritte“ zu unternehmen.

Mitsotakis streitet ab und gibt Türkei die Schuld

Auf die Frage in einem Interview mit CNN, ob Griechenland Asylsuchende an seinen Grenzen gewaltsam zurückweist, sagte Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis: „Absolut nicht. Ich nehme diesen Vorfall sehr ernst. Er wird bereits von meiner Regierung untersucht.“

Als er vor etwa einem Monat von der „Bild“-Zeitung zu den Pushbacks befragt wurde, behauptete er, dass es so etwas nicht gebe, aber „wir fangen Menschen auf dem Meer ab“, weil vielmehr die Türkei Push-Forwards durchführe, also sie gezielt Richtung Griechenland abschiebe. Diese Politik seiner Regierung sei, so Mitsotakis, „im Rahmen der EU-Verordnungen“.

Die Nationale Transparenzbehörde (NTA) hat bereits Medienberichte über Pushbacks untersucht und keine Beweise dafür gefunden. In einem im März 2022 veröffentlichten Bericht hatte sie erklärt, dass sich die Behauptungen der Nichtregierungsorganisation Lighthouse Reports über „informelle Zwangsrückführungen“ von Asylsuchenden durch maskierte Männer „nicht bestätigt“ hätten.

Im März 2020 wurde Griechenland von der EU zum ,Schutzschild Europas’ ernannt. Das war der Freibrief, Pushbacks zu normalisieren.

 Lefteris Papagiannakis, Generaldirektor des griechischen Flüchtlingsrats

Früher einmal rettete Griechenland Schutzsuchende. Nun aber hatte Mitsotakis – er wurde im Mai im Amt bestätigt – seinen Wählern mehr Abschiebungen versprochen. Die Migranten-„Invasion“ im März 2020 an der griechisch-türkischen Grenze gab ihm dafür ein solides Alibi. Damals ließ der türkische Staatspräsident Flüchtlinge an die Grenze karren. Und die EU drückt ein Auge zu, weil die Migranten so nicht nach Mittel- und Nordeuropa gelangen werden.

„Im März 2020 wurde Griechenland von der EU-Führung zum ,Schutzschild Europas’ ernannt. Das gab Griechenland einen ,Freibrief’, Pushbacks zu normalisieren, und jetzt ist es schwierig, das Land zur Rede zu stellen und die Einhaltung der Menschenrechte zu fordern“, sagte Lefteris Papagiannakis, Generaldirektor des griechischen Flüchtlingsrats, dem Tagesspiegel.

„Griechenland führt Pushbacks im Rahmen einer umfassenderen Abschreckungspolitik durch, die darauf abzielt, Migranten zu entmutigen, in die EU zu kommen.“

Zuckerbrot-und-Peitsche-Politik der EU

„Die EU verteidigt den doppelten Ansatz der europäischen Migrationspolitik: Schutz der Grenzen und Achtung der Grundrechte“, sagt Papagiannakis. „Dieser Ansatz kann für ein Land an der Außengrenze der EU wie Griechenland nicht in gleicher Weise funktionieren. Deshalb ist der Ansatz der Kommission der Ansatz von Zuckerbrot und Peitsche.“

Pushbacks werden von Menschenrechtsgruppen seit Jahren dokumentiert, ohne dass irgendeine Verantwortlichkeit gezeigt wird.

Eva Cossé, leitende Forscherin bei Human Rights Watch

Eva Cossé, leitende Forscherin bei Human Rights Watch (HRW), ergänzt: „Pushbacks und kollektive Ausweisungen an den See- und Landgrenzen, die manchmal gewaltsam und immer gefährlich sind, werden von Menschenrechtsgruppen, einschließlich HRW, seit Jahren dokumentiert, ohne dass irgendeine Verantwortlichkeit gezeigt wird.“ Weder die griechischen Behörden reagierten noch die EU.

Die EU-Kommission, die die griechische Regierung bei der Migrationskontrolle finanziell unterstützt, sagt Cossé, sollte ein Verfahren gegen Griechenland einleiten. Denn Kollektivabschiebungen verbietet das Recht der EU. Und nicht nur das: „Sie sollte auch ihre Finanzierung aussetzen, die zu Verletzungen der Grundrechte und des EU-Rechts beiträgt.“

Auch Frontex, die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache, die wegen ihrer Mitschuld an der Zurückdrängung von Migranten in Griechenland immer stärker auf dem Prüfstand steht, könnte handeln, sagt Cossé. Die Agentur könne sich auf Artikel 46 ihrer Verordnung berufen, wonach die Agentur verpflichtet ist, bei schwerwiegenden Verstößen an ihrem Einsatzort die Maßnahmen auszusetzen oder zu beenden.

„Die EU verfügt über die Instrumente und Mittel, um diesen schrecklichen Missständen ein Ende zu setzen. Es ist höchste Zeit, dass sie dies tut.“

Die griechische Gesellschaft jedenfalls dürfte keinen Druck machen, irgendetwas zu ändern. Wie eine Umfrage während der Parlamentswahlen im Land zeigte, ist der Mehrheit das Thema Migration schlichtweg egal: Nur 7,2 Prozent der Befragten war die Migrationsfrage wichtig, die auf Platz 12 von 14 Themen rangierte. An erster Stelle standen der Sozialstaat, Wirtschaft und Außenpolitik.

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