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Demonstranten in Santiago de Chile.

© REUTERS/IVAN ALVARADO

Referendum über Verfassungsentwurf in Chile: Vom Aufbruch ist nichts übrig geblieben

2022 sollte Chile eine progressive Verfassung bekommen. Heute wird stattdessen über einen Entwurf abgestimmt, den rechtsextreme Politiker erarbeiteten. Es ist zum Verzweifeln.

Ein Kommentar von Laura Dahmer

Es ist der 22. Oktober 2020. Auf den Straßen von Chiles Hauptstadt Santiago feiern Hunderttausende: Das Land soll eine neue Verfassung bekommen. So hat es ein Referendum mit überwältigender Mehrheit entschieden. „Renace“ steht in leuchtenden Großbuchstaben auf einem der Hochhäuser, vor dem die Menschen sich versammelt haben. Auf Deutsch heißt es so viel wie „Wiedergeboren werden“.

Mittlerweile ist von der Aufbruchsstimmung nicht mehr viel übrig. Vier Jahre sind vergangen, seit massive soziale Proteste in Chile Wandel forderten: Schluss mit der Politelite, Schluss mit der Verfassung, die ein Erbe des Diktators Augusto Pinochets war und die Ungleichheit im Land bis heute zementiert. Schluss mit diesem dunklen Kapitel der chilenischen Vergangenheit. Aber leider wollen das längst nicht alle.

Ein Jahr lang wurde basisdemokratisch eine neue Verfassung ausgearbeitet, im September 2022 wurde sie aber von einer großen Mehrheit abgelehnt. Vielen war sie zu progressiv, das Vertrauen in den Prozess war verspielt.

An diesem 17. Dezember wird zum zweiten Mal über eine neue Verfassung abgestimmt. Höchstwahrscheinlich wird sie abgelehnt. Denn nun sind auch jene, die damals für eine neue Verfassung auf die Straßen gingen, gegen diesen neuen Entwurf. Schlimmer als den Status Quo nennen sie ihn. Der Entwurf wurde von einem neuen Verfassungsrat geschrieben, der mehrheitlich von extremrechten Politikern besetzt war. Wird er abgelehnt, bleibt die Verfassung Pinochets.

Die Diktatur hat manche zu Multimilliardären gemacht. Sie haben kein Interesse daran, die Vergangenheit aufarbeiten.

Laura Dahmer

Das kann im Land doch keiner wollen, könnte man denken. Aber doch. Denn ein Teil der Bevölkerung, wenn auch der kleinere, hat von der Militärdiktatur profitiert. Sie bekamen politische Ämter, kauften Land, und als öffentliche Güter wie Wasser und das Rentensystem privatisiert wurden, langten sie auch dort zu.

Die Diktatur hat manche von ihnen zu Multimilliardären gemacht. Diese Menschen haben kein Interesse daran, die Vergangenheit aufarbeiten. Sie wollen keine neue Verfassung, die etwa dem neoliberalen Wirtschaftssystem ein Ende setzt und der indigenen Bevölkerung Land zuspricht, das sie sich angeeignet haben.

Jedes Mal, wenn Chile den Schritt in eine andere Zukunft gehen wollte, reagierten diese Nutznießer heftig. Als im Oktober 2019 Proteste ausbrachen, holten sie das Militär auf die Straße. Als über den ersten Verfassungsentwurf abgestimmt wurde, fluteten sie Fernsehen und soziale Medien mit Falschnachrichten.

Und als am 11. September dieses Jahres der 50. Jahrestag des Militärputsches begangen wurde, nannten sie die Diktatur eine „notwendige Umstrukturierung“ und blieben Gedenkveranstaltungen fern.

Dieser Teil Chiles möchte nichts aufarbeiten. Er möchte weiter von der Pinochet-Verfassung profitieren. Als Ende 2019 Millionen Chilen:innen auf die Straßen gingen und nach Veränderung schrien, schien seine Macht endlich zu schwinden.

Aber die Pandemie, die Repression, die Rückschläge – sie haben die sozialen Bewegungen müde gemacht. Die Rechten haben sich durchgesetzt. Und so wird eine „Wiedergeburt“ in Chile fürs Erste unmöglich bleiben.

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