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Renaissance der Atomwaffen: Müssen wir wieder lernen, mit der Bombe zu leben?
Putin droht regelmäßig, China rüstet am schnellsten auf. Auch in Deutschland werden neue Jets mit neuen Sprengköpfen stationiert. Abschreckung ist bis heute das beste Gegenmittel.

Stand:
Eine bitterböse Satire über Atomwaffen kam vor 60 Jahren in die deutschen Kinos: „Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben“.
Die 1960er Jahre waren der Höhepunkt des Kalten Kriegs mit Mauerbau und Kubakrise. Noch verhandelte niemand über Rüstungsbegrenzung oder gar Abrüstung. Dazu kam es erst im folgenden Jahrzehnt.
Sind die 2020er Jahre eine Zeit, in der die Menschen wieder lernen müssen, die Bombe zu lieben? Das Stockholmer Friedensforschungsinstitut Sipri warnt in seinem Jahresbericht: Die Zahl der unmittelbar einsatzbereiten Atomwaffen wächst. Da sei es nur ein kleiner Trost, dass die Gesamtzahl aller eingelagerten Sprengköpfe sinke, weil die USA und Russland einige Altbestände vernichten.
Neue Sprengköpfe in Deutschland
Alle neun Atomwaffenstaaten modernisieren gerade ihre Sprengköpfe und ihre Trägersysteme: ganz voran Russland und die USA, die gemeinsam rund 90 Prozent der gut 12.000 Waffen besitzen, aber ebenso China, Frankreich, Großbritannien, Indien, Israel, Nordkorea und Pakistan.
Auch Deutschland ist direkt betroffen. Es besitzt zwar keine eigenen Atomwaffen, ist aber über die „nukleare Teilhabe“ an der Abschreckung beteiligt. Auf dem Luftwaffenstützpunkt Büchel in der Eifel lagern 20 US-Atomsprengköpfe, die deutsche Piloten mit deutschen Kampfjets im Fall eines Falles zum Einsatz bringen würden.
Das ist ein Erbe des Kalten Kriegs. Damals galt: Ein heißer Krieg würde auf dem Territorium der Frontstaaten Bundesrepublik und DDR ausgetragen. Da wollte die Bundesregierung mit am Tisch sitzen, wenn über den Einsatz von Atomwaffen entschieden würde.
Die Strategie gilt bis heute, auch wenn die Frontstaaten weiter östlich liegen. Doch die Waffen sind in die Jahre gekommen. Bis 2026 tauschen die USA die hundert Sprengköpfe vom Typ B61, die im System der nuklearen Teilhabe auch in Belgien, Italien, den Niederlanden und der Türkei lagern, gegen die modernste Version, B61-12, aus. Die Luftwaffe schafft aus dem Sondervermögen Tarnkappenbomber F-35 an, die für den Atomwaffeneinsatz lizensiert sind – als Ersatz für die betagten Tornados.
Die nukleare Abschreckung der Nato ist unsere ultimative Sicherheitsgarantie.
Jens Stoltenberg, Nato-Generalsekretär
Muss das sein? Erhöhen immer mehr akut einsatzbereite Atomwaffen nicht das Risiko eines Atomkriegs? Warum überhaupt so viele Milliarden in nukleare Rüstung stecken, die man viel nützlicher in Bildung, Forschung, zivile Infrastruktur investieren könnte?
Die kürzeste Begründung haben Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg und Kanzler Olaf Scholz kürzliche gegeben. „Ohne Sicherheit ist alles andere nichts.“ Stoltenberg sagt zudem: „Die nukleare Abschreckung der Nato ist unsere ultimative Sicherheitsgarantie.“
Putin droht regelmäßig mit Atomwaffen
Wladimir Putin flicht die russischen Atomwaffen regelmäßig in seine rhetorischen Drohungen gegen den Westen ein. China hat zwar viel weniger Atomwaffen als die USA und Russland, aber es baut sein Arsenal am schnellsten aus und wird bis 2030 um die 1000 Sprengköpfe haben in Kombination mit Interkontinentalraketen, die Europa und die USA erreichen.
Bisher gibt es kein wirksameres Mittel gegen einen Einsatz von Atomwaffen als die Abschreckung durch die Drohung mit dem Gegenschlag. Die muss glaubwürdig sein. Das leisten neue Arsenale besser als veraltete Waffen. Sie sind auch technisch zuverlässiger als der Altbestand. Insofern schafft die Modernisierung nicht noch mehr Unsicherheit.
Die Risiken ergeben sich aus der politischen Unvernunft. Derzeit spricht nichts für ein Lernen aus der Vergangenheit. Auf die 1960er Jahre, in denen die Menschheit lernen musste, die Bombe und das perverse Gleichgewicht des Schreckens zu lieben, folgten über Jahrzehnte mehrere Abrüstungsverträge zwischen den USA und der Sowjetunion.
Aber: Kann man mit Wladimir Putin Verträge schließen in der Erwartung, dass er das Unterschriebene einhält? Er hat diese unerlässliche Vertrauensbasis durch mehrfachen Vertragsbruch zerstört. Und China möchte seinen militärischen Ehrgeiz nicht durch Begrenzungsverträge bremsen. Jedenfalls noch nicht.
Auf absehbare Zeit bleibt nichts anderes, als sich auf die Abschreckung zu verlassen. Lieben muss man sie aber keineswegs.
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