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Die Schriftstellerin Sylvie Schenk.

© Peter Hassiepen/Hanser Verlag

„Maman“ von Sylvie Schenk: Tiefes, ausdauerndes Grollen

Zwischen Literatur, Autobiografie und Geschichtsschreibung: Mit „Maman“ hat die französisch-deutsche Schriftstellerin ihrer Mutter ein eindrückliches Denkmal gesetzt - und für sich selbst Frieden mit ihrer Herkunft geschlossen.

Man hat von der titelgebenden „Maman“, von Sylvie Schenks Mutter, schon einmal gehört, natürlich in einem der anderen Romane der 1944 in einer kleinen Stadt in den französischen Alpen geborenen Schriftstellerin. In „Schnell, dein Leben“ hat Schenk 2016 die Geschichte einer Frau zwischen Frankreich und Deutschland erzählt, eng an ihr eigenes Leben geschmiegt. Wie Louise, die Hauptfigur aus diesem Roman, studierte Schenk Mitte der sechziger Jahre Altphilologie und Französisch in Lyon, lernte hier einen Deutschen kennen und lieben und ging mit diesem 1966 nach Deutschland.

Weil „Schnell, dein Leben“ eine gewisse Atemlosigkeit innewohnt, bei knapp 160 Seiten geradezu naturgemäß, spielte die Mutter nur eine Nebenrolle. Immerhin erfuhr man von ihr, dass sie ein Geheimnis umweht, weil sie ein Adoptivkind ist und sich über ihre Herkunft lieber ausschweigt. Nun, einige Jahre und zwei weitere Romane später hat sich Schenk gezielt auf die Suche nach ihrer Mutter und deren Wurzeln gemacht, auch um den eigenen Frieden bezüglich ihrer Herkunft zu finden.

Dabei ist ihr bewusst, dass sie auf viele Fragen, die sie hat, nur selbst Antworten geben kann. Weshalb „Maman“ trotz der autobiografischen Grundstruktur als Roman firmiert. (Schenk spricht von einem „Text“).

Opfer der Umstände, der Zeit

Der Geburtsname ihrer Mutter sei Renée Gagnieux gewesen, hebt Schenk an, das habe ihre Schwester in den Archiven recherchiert. Als etwas „Hartes und Krummes und Hakeliges wie ein Fragezeichen“ würde dieser Name in ihr stecken. So wie bei der Mutter. „In meiner Mutter selbst rumorte ihre unbekannte Mutter, Cécile Gagnieux, die sie verdrängt, verschluckt und nie verdaut hat. Sie hat nicht mal ihren Namen erfahren.“

Sylvie Schenk will nun das nachholen, was ihre Mutter versäumt hat, diese Unglückliche, „die ihr Unglück nicht reflektieren konnte.“ Sie erzählt nicht nur das Leben von „Maman“, sondern zunächst auch das von Cécile, der Großmutter. Wobei diese Erzählung mangels Informationen auf dem Totenbett stattfindet. Denn Cécile Gagnieux, die mit 13 Jahren angefangen hat, in einer Seidenfabrik zu arbeiten, die sich mutmaßlich prostituiert hat, die nicht zuletzt eine „alte Gebärende“ ist, stirbt Ende Dezember des Jahres 1916 kurz nach der Geburt ihrer Tochter Renée im Hotel-Dieu, dem Krankenhaus von Lyon.

Renée aber ist gesund, kommt zu Pflegeltern in die Ardèche, wo es ihr nicht gut ergeht, mit der Folge, dass ein anderes Ehepaar sie umsorgt. Dieses behandelt sie nicht nur gut, sondern liebt Renée wirklich. Insbesondere die Mutter, eine gewisse Marguerite, die aus Toulouse stammt und eine belesene Frau ist, besonders die Schriftstellerin Colette hat es ihr angetan.

Kind einer Prostituierten

Marguerite wird als Adoptivmutter und spätere Großmutter der kleinen Sylvie zu dieser sagen: „Du bist eine Leseratte, das hast du von mir geerbt, mein Kind, so wirst du auch meine Bibliothek erben, auch die Romane von Colette, ich hoffe, Kind, dass du bis dahin gepflegter mit Büchern umgehen wirst.“

Nach und nach und mit einigen Rückblenden und zeitlichen Sprüngen entfaltet Schenk in kurzen Kapiteln das Leben ihrer Mutter, so wie sie es aus Akten kennt, wie sie es dann selbst später erfahren hat. Von der Schule, auf die Rénee geht, über die Bekanntschaft mit einem Zahnarzt, der sie umwirbt und den sie heiratet, bis zu den fünf Kindern, die sie zur Welt bringt.

Es ist eine sacht-vorsichtige Annäherung, die Schenk ohne abrechnen zu wollen, aber durchaus mit Kritik am Wesen der Mutter vornimmt, an deren Steifheit, Verschlossenheit und Gleichgültigkeit: „Überhaupt vernehme ich aus ihrem ganzen Leben ein tiefes, andauerndes Grollen.“ Als Opfer der Umstände porträtiert sie sie mitunter, der Zeit, der Umstände, der jeweiligen Milieus. Was wiederum ihrer jüngsten Schwester nicht gefällt, im Gegensatz zu einer anderen der Schwestern, die gar nichts Gutes über die Mutter zu berichten weiß.

In der Spur von Annie Ernaux

Schenk schafft auf diese Weise eine Vielstimmigkeit, die ihr hilft, die Mutter besser zu fassen und charakterlich auf den Punkt zu bringen, bis hin zu einem „Fauxpas“, einem Seitensprung. Man merkt kaum, wenn sie Lücken womöglich fiktiv anreichert: Schenk ist eine Meisterin des autobiografischen Schreibens, der Autofiktion.

Wenn eine ungleich berühmtere Kollegin wie Annie Ernaux mitunter das Soziologische erst recht ausarbeitet, legt Schenk über das Leben ihrer Mutter, bei allem Wissen um die Lebensumstände, doch lieber ein wenig Poesie, poetische Motive wie blaue Augen, eine Puppe, ein Hochzeitskleid oder einen Prinzessinnentraum.

„Du darfst alles aufschreiben, ich weiß, dass du es aufschreiben wirst“, soll Maman schließlich auf dem Sterbebett gesagt haben. Vielleicht hat Sylvie Schenk nun wirklich Frieden mit ihr, mit sich und der eigenen Herkunft geschlossen. Der Auftrag der Mutter ist jedenfalls das Glück des Lesers, der Leserin: Diese Muttergeschichte ist eine der gleichermaßen lebendigsten, klügsten und berührendsten seit langem.

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