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Das Städtische Theater in Chemnitz

© Nasser Hashemi

Ganz neue Töne: Was die mitteldeutschen Musiktheater im Winter zu bieten haben

Von Gespenstern und Meerjungfrauen: Viele Bühnen in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen führen in den kommenden Monaten seltene Stücke auf. Eine Auswahl.

Mag es an immer mehr Weltenecken brennen: In Mitteldeutschland feiern Orchester, Musiktheater und Festivals ihren (immer noch) blühenden Kulturreichtum, als herrschte Frieden in Europa und als hätte es Corona nie gegeben. Ob man das schon als Eskapismus bezeichnen kann?

Südlich der Elbe haben sich die Auslastungszahlen in den postpandemischen Jahren durchaus unterschiedlich erholt. Die Hilferufe des Gerhart-Hauptmann-Theaters in Görlitz und Zittau sind gleichwohl nicht zu überhören. Zum Jahresende droht hier die Insolvenz, und doch sind die Häuser trotz zusätzlichem Wasserschaden in die neue Spielzeit gestartet.

Gemunkelt wird viel, auch darüber, ob die Sparte Musiktheater erhalten werden kann. Dabei stehen im Winter mit einer szenischen Aufführung von Händels Oratorium „Saul“ und den zwei kombinierten Einaktern „Das Telefon“ von Gian Carlo Menotti und Ermanno Wolf-Ferraris wunderbar komischer Arabeske „Susannens Geheimnis“ ambitionierte Projekte auf dem Plan.

Reger Besucherzustrom

Ob die Hilferufe Widerhall finden, wird sich bald erweisen. Da stellt sich eine grundsätzliche Frage: Wollen die Menschen im Osten noch leibhaftige Kultur erleben? Der Görlitzer Intendant Daniel Morgenroth meint: ja. Wer aber zwei Stunden fahren müsse, für den werde Theater nie Bestandteil des natürlichen Lebens werden. Trotzdem erfreut sich die mitteldeutsche Szene eines regen Besucherzustroms. Dass es in Städtchen wie Plauen, Halberstadt oder Döbeln überhaupt noch Theater mit mehreren Sparten gibt, gehört zu den schönsten Überbleibseln der Kleinstaaterei.

Die Oper „Grete Minde“ über den großen Tangermünder Stadtbrand von 1617 wird in diesem Winter am Theater Magdeburg wieder aufgenommen.
Die Oper „Grete Minde“ über den großen Tangermünder Stadtbrand von 1617 wird in diesem Winter am Theater Magdeburg wieder aufgenommen.

© Andreas Lander

Auch die Festivalszene ist so bunt wie nie und wird durchaus noch vielfältiger. Sogar Neulinge auf der Landkarte beweisen das unerschrockene Vertrauen ihrer jeweiligen Gründereltern in ein noch immer hungriges Publikum. Traditionell lädt das Kurt-Weill-Fest zum Geburtstag des berühmten Dessauers Anfang März in seine Heimatstadt, bevor Christian Thielemann in seiner Abschiedssaison als Chef der Sächsischen Staatskapelle zu den Richard-Strauss-Tagen über Ostern nach Dresden lockt.

Man könnte also von Festival zu Festival reisen, wollte man nicht zwischendurch einige Schmeckerchen verpassen. Zwar orientieren sich viele Musiktheater aus nachvollziehbaren Gründen merklich an den üblichen Kassenschlagern, und so strausst, mozartet und puccinit es ganz gewaltig auf mitteldeutschen Bühnen; die unverwüstliche Fledermaus erlebt allein acht Neuproduktionen in dieser Saison. Dennoch gibt es auch einige Uraufführungen zu erleben, etwa die Oper „Gespenster“ des Dänen Torstein Aagaard-Nilsen nach dem Drama von Ibsen in Meiningen oder „Die Stimme der Meerjungfrau“ von Ralph Neubert in Erfurt.

Eine besondere Uraufführung fand jüngst im winzigen Eduard-von-Winterstein-Theater zu Annaberg-Buchholz statt: Das Dreispartenhaus brachte die Komödie „Don Buonaparte“ von Alberto Franchetti heraus. Nie gehört? Stimmt, denn die letzte Oper des von Verdi hoch geschätzten Italieners aus dem Jahre 1942 durfte nicht mehr aufgeführt werden, weil der einst weltweit erfolgreiche Komponist dem jüdischen Bankiershaus Rothschild entstammte.

Szene aus „Don Buonaparte“ am Winterstein-Theater in Annaberg.
Szene aus „Don Buonaparte“ am Winterstein-Theater in Annaberg.

© Ronny Küttner

Die Weltpremiere holt man nun im Erzgebirge nach, wo Laien im Advent sonst nur Schwibbögen vermuten. Womit bewiesen wäre, dass hier ein wahrhaft reichhaltiges kulturelles Eigenleben pulsiert: in einer Stadt mit nicht mal 20.000 Einwohnern!

Anderswo in Mitteldeutschland wird aber auch seltenes gespielt wie Bohuslav Martinůs „Die drei Wünsche“ in Chemnitz, Sergej Prokofjews „Liebe zu den drei Orangen“ und die Wiederaufnahme der Oper „Grete Minde“ in Magdeburg über den großen Tangermünder Stadtbrand von 1617 sowie „The Rake’s Progress“ von Strawinsky in Zwickau.

Das Gewandhaus in Zwickau
Das Gewandhaus in Zwickau

© André Leischner

Auch die spätimpressionistischen Werke von Karol Szymanowski werden kaum noch beachtet, obwohl der polnische Komponist in den 1920er-Jahren weltweit aufgeführt wurde. Anfang März holt das Anhaltische Dessau im Rahmen des Kurt-Weill-Festes Szymanowskis 1926 uraufgeführte zweite Oper „König Roger“ aus der Versenkung. Kurz darauf gräbt die Musikalische Komödie Lortzings „Hans Sachs“ in Leipzig aus – und die bewegt sich mit Sicherheit auf einem ganz anderen musikalischen Horizont als Wagners Meistersinger.

Wenig Märchen, viel Kirchenmusik

Dieses große Repertoire mag die Kenner locken, doch was ist mit dem Nachwuchs in den Sälen, den wenigstens vor Weihnachten beflissene Großeltern ans Kulturerleben gewöhnen wollen? Ungewöhnlich ist, dass es mit innovativen Märchenproduktionen in diesem Jahr eher dürftig aussieht.

Dafür durchlebt die Kirchenmusik in dieser Zeit ihren Höhepunkt, und am innigsten beeindrucken die reinen Stimmen der großen, über 800 Jahre alten Knabenchöre bei Bachs Weihnachtsoratorium, das in der Leipziger Thomaskirche ebenso wie in der Dresdner Kreuzkirche erklingt. Sowohl Thomaner als auch Kruzianer erfreuen sich seit nunmehr zwei Jahren einer merklichen Auffrischung ihres Klanges, was wohl daran liegt, dass beide jeweils einen neuen Kantor bekommen haben.

Inzwischen dürfen die singenden Botschafter des immateriellen Weltkulturerbes auch wieder auf Tournee fahren: Die Kruzianer kommen mit dem Weihnachtsoratorium Anfang Dezember nach Berlin. Aber wenn man sie am angestammten Ort hören kann, lässt sich das wunderbar mit einem Besuch des Dresdner Striezelmarkts verbinden. Und was wäre weniger aktuell als die Geschichte um die Geburt des Erlösers einer sündigen Welt? Eskapismus ist das jedenfalls nicht.

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