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Peter Handke. Am 6. Dezember wird er 81 Jahre alt.

© picture alliance/dpa/Bernd Weißbrod

Wörter wie Bilder betrachten: Peter Handkes neues Buch „Die Ballade des letzten Gastes“

Die Macht als Glücksbringer: Der Literaturnobelpreisträger schließt den Kreis zu seiner Rede 2019 in Stockholm und erzählt die lange verschwiegene Geschichte vom Tod des Bruders seiner Mutter.

Als Peter Handke im Dezember 2019 in Stockholm seine Nobel Lecture hielt und partout nichts zu Jugoslawien sagen wollte, begab er sich, wie es das viele Literaturnobelpreisträger tun, tief in seine Kindheit. Er erzählte, was seine Mutter ihm so oft erzählt hatte, keine Geschichten, nein, natürlich „unerhörte Begebenheiten“, der Stoff, aus dem Novellen werden, Literatur.

Drei dieser Begebenheiten gab Handke zum Besten. Zwei davon handelten von den Brüdern der Mutter. Beide starben im Krieg, Hans und Georg, und Handke merkte an, diese Begebenheiten seien zwei „für mein Schreiberleben entscheidende Episoden“ gewesen.

Beide sind Heimkehrergeschichten. Sie erzählen, wie erst der jüngere, Hans, aus dem Internat zurück nach Hause flüchtet, des Heimwehs wegen. Und wie der ältere, Georg, 1943 auf Heimaturlaub ist. Er kommt aus dem Krieg in sein Dorf, erfährt bei der Ankunft von jemand, dass sein jüngerer Bruder gefallen ist, verschweigt diese Nachricht aber der Familie.

Die Metamorphose hat begonnen

Die erste Geschichte ist in Handkes Werk in vielerlei Variationen eingegangen. Sie geistere, so Handke damals in Stockholm, „sozusagen naturverwandelt, das heißt ohne ein Zutun, von Anbeginn durch meine Bücher.“ Die von Georg und seinem fatal-rücksichtsvollen Schweigen aber sei eine unerzählte. Im Fall dieser stehe „eine solche Metamorphose aus, oder, so Gott, das Geschick oder was auch immer es vergönnt, bevor.“

Handke hat, seitdem er den Literaturnobelpreis verliehen bekommen hat, so einige, mitunter fast heitere Bücher veröffentlicht, „Das zweite Schwert. Eine Maigeschichte“ zum Beispiel oder „Mein Tag im anderen Land. Eine Dämonengeschichte.“ Mit seinem neuen nun, der „Ballade vom letzten Gast“, schließt er den Kreis zu seiner Nobel Lecture – und noch weiter zurück. Nämlich zu der Zeit, als Handke zu dem verfeinert-eigenwilligen Schriftsteller wurde, als den man ihn heute kennt.

In dieser Zeit, Ende der siebziger Jahre, wandte er sich mit Büchern wie „Langsame Heimkehr“, „Die Lehre der Sainte-Victoire“ und dem dramatischen Gedicht „Über die Dörfer“ einer neuen ästhetischen Form zu. Die reine poetische Schönheit wurde zu seinem letztgültigen Programm. Fortan wollte Handke, wie er viel, viel später sagen sollte, nur noch von Tolstoi, von Cervantes, von Homer kommen und Wörter am liebsten nur wie Bilder betrachten oder verstanden wissen. Selbst wenn das nicht immer, siehe seine Jugoslawienbücher, angebracht war.

Das „Geschick“ hat es ihm nun endlich „vergönnt“, die Geschichte der Mutter mit Gregor in der Hauptrolle in eine Erzählung zu verwandeln. Es beginnt wie so oft bei Handke abermals mit einer Heimkehr, eigentlich einer recht schnellen, mit gleich drei Flugzeugen. Sie zieht sich allerdings, diese Heimkehr, auch das kennt man von Handke, gilt es doch das Zeitmaß des Erzählens zu beachten. Gemächlichkeit ist Trumpf, es gibt so viel zu sehen, zu erwähnen.

Am Ende steht eine Busfahrt: „Und er fand sich wieder in einem der alten Überlandbusse, als Markenzeichen auf die Flanken, statt des langgestreckt dahinfliegenden ,Greyhound‘ eine noch ganz anders durch die Lüfte schnellende Antilope gemalt, wenn nicht ein Delphin.“

Alles ist anders geworden im Dorf. Dieses ist Teil einer größeren „Agglomeration“, und Gregor, wie der Heimkehrer erst spät genannt wird, kennt niemand mehr und wird von niemand mehr erkannt, trotz seiner Einäugigkeit, auch diese eine reale Beeinträchtigung des Mutterbruders. Immerhin begleitet ihn ein Hund, wie auch später immer mal wieder.

Für tot erklärt, aber nicht gestorben

Unterwegs schon hatte Gregor eine Nachricht auf seinen „Taschentelefonschirm“ bekommen, Smartphonedisplay würde Handke nie schreiben. Er liest, als er sie endlich öffnet, dass sein zwanzig Jahre jüngerer Bruder, der in der Fremdenlegion irgendwo in den Tropen im Einsatz war, tot sei.

Und was macht Gregor nach seiner Ankunft im Elternhaus, bei Vater, Mutter und Schwester, die gerade selbst Mutter geworden ist: Er verschweigt den Tod von Hans. Es kam ihm sowieso vor, „als ob von nichts die Rede wäre“. Denn diagnostiziert hatte er zuvor, dass die Familie sich um diesen Hans, obwohl „lebendig verschollen“, kaum sorgte: „Auch für tot erklärt, wirst du mir nicht gestorben sein.“

Gregor wird zum Chronisten, zum „rechtschaffen falschen“. Er erzählt von Hans, dem Liebenden, als den er ihn irgendwann einmal kennengelernt hat, vermengt die Zeiten, die von sich, dem plötzlich die Familie singend erscheint, zwanzig Jahre oder mehr zuvor, und den anderen. Und Handke? Macht sich zu Gregor, spürt sein „Begehren, wieder er zu sein“, wie er es mal geschrieben hat, und wechselt munter die Perspektiven: vom Ich zum Du und wieder zum Personalen.

Man hat bei dieser „Ballade des letzten Gastes“ von Beginn an den Eindruck, als würde Peter Handke sich kreuz und quer durch den eigenen Schreibraum bewegen: angefangen vom „Kurzen Brief zum langen Abschied“, in dem er aus einer Muttererzählung eine Ballade gemacht hatte, über das stete, Odysseus-hafte und Homer-zitierende Unterwegssein zu Fuß und in allerlei Verkehrsmitteln, bis hin zum „Stillen Ort“. Den nimmt er am Ende in einer Kirche erstmals richtig wahr: „Noch nie überhaupt war ihm in kirchlichen, in geweihten Räumen ein Stiller Ort begegnet, und er war sogar versucht, sich da-dort über die Zeit hinaus aufzuhalten, einfach so.“           

Kurze Briefe, stille Orte

Die „Ballade des letzten Gastes“ ist also eine, die vom Verschweigen des Brudertods erzählt. Es versteht sich, dass daraus noch keine lange Erzählung von knapp zweihundert Seiten wird. Gregors Woche in seiner Heimat erzählt nun davon, dass er die Tage, wie gewohnt, nicht bei den Seinen verbringt, sondern herumstreift.

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Das macht er noch intensiver als sonst. Es geht erst in den Obstgarten hinter dem Haus, dann in die Umgebung der „Neuen Stadt“, in ein Fußballstadion, wo er einer jungen Fußballerin allein beim Spielen zusieht. Schließlich landet Gregor in einem Wald, wo er in einem Weiher schwimmt und eine „Bombentrichternacht“ verlebt. Am Ende steht der Vorsatz, die Nächte in Gaststätten zu verbringen mit dem Ziel, der letzte Gast zu werden. Oder besser: der Letzte Gast.

Von etwas „Unplanbaren“ fabuliert Gregor, von einem „Durcheinander, ein gehöriges, ungeahntes“, davon sein eigener Prophet zu sein, so selbstbewusst wie nie, so frei wie nie, einfach so. Versteht man es? Diesen Move? Nein, nur Handke versteht das. Seinen Gregor, sich selbst, beschreibt er als „Fremdgelenkten“, der Tage „der Abwesenheit von sich selbst“ verbringt. Er wird zum „Gasthaussitzer“, er hätte es nie gedacht. Warum, eine weitere Erklärung: „Macht als Glücksbringer. Der letzte Gast, er bringt Glück.“

Das Begierdezittern

Handke zitiert einmal aus Grillparzers „Armer Spielmann“ den Satz „Ich zitterte vor Begierde nach dem Zusammenhang“ – und verwandelt dieses Zitat in das Begierdezittern nach dem letzten Gast. Darum geht es letztendlich in dieser Erzählung: um den Zusammenhang. Um Augenblicke eines Lebens, die mit vielen anderen in Verbindung gebracht werden, um die Dinge und die Welt um einen herum, die jedwede Zusammenhanglosigkeit verweigern. Das demonstriert Handke schließlich im vollen Effekt mit dem kurzen dritten Teil des Buches: Satz an Satz, Bild an Bild. Hier findet sich die eigentliche Ballade des letzten Gastes.

Schon oft hatte er „die Wahrheit des Erzählens als Helligkeit“ erfahren, schrieb Handke einst in „Die Lehre von Sainte-Victoire“. So dürfte es dem Literaturnobelpreisträger jetzt wieder ergangen sein. Denn während der sieben Tage von Gregor Werfer – wie dieser urplötzlich irgendwann mit Nachnamen heißt, bei den vielen Gregors in Handkes Werk unumgänglich – wollte „das Sehen nicht mehr aufhören“. Und damit das Erzählen. Das Glück von Peter Handke, es muss allerdings nicht immer auch das Glück seiner tapfer unentwegten Leserinnen und Leser sein.      

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