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Der Schriftsteller Wilhelm Genazino im Jahr 2017.

© picture alliance / Arne Dedert/dpa / dpa/Arne Dedert

Das Werktagebuch des Büchner-Preisträgers Wilhelm Genazino: Melancholie und Glückssuche

Über vierzig Jahre lang hat der 2018 verstorbene Schriftsteller Wilhelm Genazino ein Werktagebuch geführt. Nun sind erstmals Auszüge daraus erschienen.

Eine der Maximen des im Dezember 2018 verstorbenen Schriftstellers und Georg-Büchner-Preisträgers Wilhelm Genazino lautete, dass das Glück nicht zum Leben dazu gehöre, auch nicht eine „jederzeit verfügbare Lustigkeit“. Immer gelte es, „der herrschenden Glückssucht“ etwas entgegenzusetzen. Genau das taten nicht wenige seiner wunderbaren kleinen, zwar handlungsarmen, dafür um so beobachtungs- und gedankenreicheren Romane.

Irgendwann schlägt das falsch angefangene Leben in ein Schicksal um.

Wilhelm Genazino

Ihre Lektüre machte dann durchaus glücklich. Dass er trotzdem sich dem Glück nicht verweigerte, lässt sich jetzt in dem von Jan Bürger und Friedhelm Marx herausgegebenen Genazino-Buch „Der Traum des Beobachters“ nachlesen. „Ein paar Seiten Dostojewski allein am Strand, ein erstaunliches Glück“, hat Genazino 2004 notiert, in dem Jahr, in dem ihm der Georg-Büchnerpreis verliehen wurde. Oder auch: „Glück ist, wenn mir etwas einfällt. Es ist ein wirkliches Glück, denn ich weiß nicht, wo es herkommt, wer es mir geschenkt hat, warum gerade ich es bekomme.“

Dass ihm etwas einfällt, er nicht nur unwillkürlich inspiriert wurde, dafür hat Genazino selbst geradezu streng Sorge getragen. Von 1972 an, da hatte er gerade erst einen Debütroman veröffentlicht und versuchte sich als freier Autor vor allem mit Radiobeiträgen durchzuschlagen, führte er ein sogenanntes Werktagebuch. Immer wenn er rausging, und er ging viel raus, passioniert und ziellos, nahm er einen Stift und einen Block mit und schrieb seine Beobachtungen, Einfälle und Gedanken auf, in Cafés, Kneipen, Restaurants oder gleich auf der Straße.

Wieder zuhause angekommen und immer wenn er mindestens eine Seite hatte, tippte er die Notizen dann auf seiner Schreibmaschine ins Reine und heftete die Blätter ab, versehen mit Datum und Kürzel. Dafür braucht es Disziplin, einen Hang zum Buchhalterischen, Beides war Genazino höchst zu eigen.

Er wusste eben auch, wie es in einem Eintrag von 1974 heißt, drei Jahre bevor der erste Band seiner Angestelltenromansaga „Abschaffel“ erschien, die ihm seinen ersten großen Erfolg bescheren sollte: „Prosa muss man mit System schreiben, das heißt: regelmäßig. Der Vorteil der Regelmäßigkeit liegt darin, dass man in den Vorteil jeder vernünftigen Tätigkeit kommt, und diese Vernunft besteht darin, dass man seine Arbeit wiedererkennt.“

Über vierzig Jahre hat Genazino diese Werktagebücher geführt und 38 handelsübliche Aktenordner damit gefüllt. Bereits 2012 hat er sie als Vorlass dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach übergeben. „Der Traum des Beobachter“ versammelt erstmals Auszüge daraus, schön chronologisch, Jahr für Jahr und mit kleinen Vorspännen, in denen die Herausgeber über Genazinos jeweilige Veröffentlichungen informieren, über sein Fortkommen und seine Erfolge, und auch über die private Veränderungen und Unglücke.

Letztere finden kaum Niederschlag in den ausgewählten Einträgen. Vielfach sind es Aphorismen, die Genazino als einen Meister dieser Form zeigen („Irgendwann schlägt das falsch angefangene Leben in ein Schicksal um“, schrieb er 2003), vielfach sind es Ideen für Romane, die Genazino ausarbeitet, für „Abschaffel“, einen „Arbeitslosenroman“, einen „Jugendroman“ oder für ein „Kofferbuch“ (aus dem später der Roman „Die Liebesblödigkeit“ wird); auch seine vielen Dankesreden bereitet er hier vor. Dazu kommt ein stetes Nachdenken über das Schreiben, Bücher, Lektüren, den Roman als solches.

Auffällig wenig findet sich zum jeweiligen Zeitgeschehen. Das mag dem Fokus der Herausgeber auf das Werkimmanente geschuldet sein. Dafür gibt es diverse schöne Dokumente, so wie beispielsweise das Schuhtester-Stellenangebot von der Firma Bata.

Genazino bewarb sich darauf, wie ein Bata-Antwortbrief beweist („Bis bald in der großen BATA „Schuh-Test Familie“), ohne dass man erfährt, ob er wirklich als Tester unterwegs war. Zwei Jahrzehnte später hat er allerdings einen Schuhtester zur Hauptfigur seines Romans „Ein Regenschirm für diesen Tag“. Mit diesem Roman avancierte Genazino nach einer lobenden Besprechung im Literarischen Quartett zum Bestsellerautor.

Dass das Glück für ihn aber nicht in solchen ökonomischen Erfolgen und noch mehr Ruhm bestand, beweisen die Notate in den Jahren nach 2001. Wenn es um Scham, um Peinlichkeit, um das unbedingte Vermeiden derselben, um Wehegefühle, Melancholie und Vergeblichkeit ging, kam kaum jemand an ihn heran: „Man verbraucht die Hälfte der eigenen Lebenszeit, um der Diktatur seiner Biografie zu entkommen“, schrieb er 2014. Gerade in diesen Bereich spricht Wilhelm Genazino vielen aus der Seele. „Der Traum des Beobachters“ ist insofern gleichermaßen Trostbuch wie Genazino-Lesebuch.

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