zum Hauptinhalt
Martin Scorsese poses during a photocall ahead of the Hommage Gala Award Ceremony where he will receive the Honorary Golden Bear Award at the 74th Berlinale film festival in Berlin on February 20, 2024. (Photo by Odd ANDERSEN / AFP)

© AFP/ODD ANDERSEN

Die Berlinale feiert Martin Scorsese: „Das Kino wird nicht sterben, es transformiert sich“

US-Meisterregisseur Martin Scorsese bekommt den Goldenen Ehrenbären. Bei der Pressekonferenz bricht er eine Lanze für individuelle Stimmen im Kino und schwärmt von der Lasagne seiner Mutter.

Das Kino als Höhle der Obsessionen: Kaum ein anderer hat diesen finsteren Ort so intensiv und exzessiv erforscht wie Martin Scorsese. 81 Jahre alt ist der US-Regisseur, dem die Filmwelt Meisterwerke wie „Taxi Driver“, „Good Fellas“ oder „Casino“ verdankt, Filme vor allem über die Mafia und das Böse, die Bandenkriege der Großstädte, die Blutspur der Männer. Scorsese hat uns die Angst im Kino gelehrt, die Angst vor unseresgleichen.

Mit seinem jüngsten Werk, „Killers of the Flower Moon“, geht er noch radikaler mit der Gewaltgeschichte Amerikas ins Gericht – und rehabilitiert deren Opfer. An den (von Robert De Niro und Leonardo DiCaprio, zwei seiner wichtigsten Stars gespielten) bad guys lässt er diesmal kein gutes Haar und zeichnet sie als gierige weiße Männer, die das Volk der Osage ausrotten, um deren Öl-Reichtum an sich zu reißen. „Killers of the Flower Moon“ ist für zehn Oscars nominiert, darunter Lily Gladstone als beste Hauptdarstellerin.

Nun sitzt Martin Scorsese im Konferenzraum des Hyatt-Hotels am Potsdamer Platz, wenige Stunden, bevor ihm im Berlinale-Palast der Goldene Ehrenbär verliehen wird. Gut 30 Minuten dauert die Pressekonferenz, Scorsese spricht wie immer irrwitzig schnell. Bei aller Rasanz folgen seine Assoziationsketten doch einer präzisen Logik: Fast jeder Satz ein Geistesblitz. Selbst Festivalchef Carlo Chatrian und Kinematheks-Direktor Rainer Rother an seiner Seite kommen kaum nach. Scorsese adelt das Festival, sein Auftritt ist ein Höhepunkt der 74. Berlinale.

Zunächst einmal, und am Ende dann wieder, verteidigt er den Film als Ausdrucksmittel für individuelle Stimmen, ob sie sich nun auf Tiktok artikulieren, in einer Mini-Serie oder einem Vier-Stunden Opus.

Er erzählt von seiner New Yorker Kindheit in Little Italy: Bücher gab es keine bei den Scorseses, aber im Fernsehen sah er Jean Renoir, japanische Meisterwerke von Kenji Mizoguchi oder englisch Synchronisiertes aus Indien, mit Werbung dazwischen. Eine Welt tat sich auf: Die Menschen in diesen Filmen waren nicht anders als die, die er von der Lower Eastside kannte. „Manchmal sieht man einen Film einmal und erinnert sich das ganze Leben daran,“ sagt er.

Und manchmal sehe man den Film Jahre später mit anderen Augen, weil man sich selber geändert habe. Seit geraumer Zeit setzt Martin Scorsese sich für die Restaurierung und Bewahrung von Filmklassikern ein. Danach befragt, erzählt er, wie Steven Spielberg, Brian de Palma und andere Kollegen einander schon als Regie-Anfänger in den Siebzigerjahren ständig fragten: „Hast du den schon gesehen?“ Wie der Stummfilm mangels Kopien praktisch tot war, wie er bis heute für gute Kopien kämpft. Mit Filmen sei es wie mit Beethoven-Symphonien: Sie bleiben lebendig, eben indem sie sich ändern, jedesmal, wenn man sie hört und sieht.

Journalisten aus Kasachstan, Brasilien, Griechenland oder Bulgarien bestürmen den Meister, einer von ihnen performt einen Monolog aus „The Departed“ von 2006, der am Abend im Berlinale-Palast gezeigt wird. Den Monolog spricht Scorsese auf der Stelle zu Ende, pariert auch sonst unverzüglich. Sein Lieblingsessen? „Die Lasagne meiner Mutter.“ Martin Scorsese in einem Wort? „Ein Geheimnis.“ Angst vor dem Kinosterben? „Nein, das Kino transformiert sich. Keine Angst vor neuen Technologien, es wird überleben!“ Als er für „Killers of the Flower Moon“ in Oklahoma als Locationscout unterwegs war und sie auf ein abgelegenes einzelnes Farmhaus stießen, entpuppte sich der 20-jährige Sohn der Familie als Cinephiler, der ihn nach speziellen Arthaus-Filmen fragte.

Auf die Frage nach den wichtigsten 30 Sekunden seines Lebens erinnert sich Scorsese wiederum an einen 30-Sekunden-Spot, den er in den Achtzigern für Armani gedreht hat. Seitdem weiß er, wie lange 30 Sekunden sein können und wie viel sich in einer Szene, einer einzigen Einstellung erzählen lässt.

„Sein Blick auf die Geschichte und die Menschheit hat uns geholfen, zu verstehen und zu hinterfragen, wer wir sind, woher wir kommen,“ hatte das Leitungsduo des Festivals, Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek, bei der Bekanntgabe des Ehrenbären für Scorsese im Dezember mitgeteilt.

Wieso ist die Wahl im letzten Amtsjahr des Leitungsduos eigentlich erneut auf einen US-amerikanischen Altmeister gefallen? Erst 2023 war ja Steven Spielberg mit dem Ehrenbär ausgezeichnet worden. Auch wenn Chatrian es in Interviews nicht bestätigen mag: Gold für Scorsese, das hat vermutlich damit zu tun, dass der Regisseur Anfang September zu den Erstunterzeichnern eines offenen Briefs gehörte, in dem sich internationale Filmschaffende mit Chatrian solidarisch erklärten.

In scharfen Worten protestierten sie gegen die Entscheidung von Claudia Roth, sich von der Doppelspitze zu verabschieden, was faktisch einem Vertragsende für Chatrian als Künstlerischem Leiter gleichkam. Gleich im ersten Satz protestierte der Brief gegen das „schädliche, unprofessionelle und unmoralische Verhalten“ seitens der Kulturstaatsministerin, die Chatrian zufolge nach der letzten Berlinale eine Vertragsverlängerung in Aussicht gestellt hatte.

Wie immer es tatsächlich abgelaufen sein mag: Die Ehrung für Scorsese hat auch diesen kulturpolitischen Kontext. Schade nur, dass anders als bei den bisherigen Ehrenbär-Gewinnern keine Hommage-Filmreihe programmiert ist. Zu gerne hätte man einige der Filme auf der großen Leinwand wiedergesehen, die auf der Berlinale einmal Premiere feierten. Darunter „Raging Bull“, „Gangs of New York“ und die Rolling-Stones-Doku „Shine A Light“, die 2008 das Festival eröffnete.

Aber außer einer von Scorsese kommentierten Doku über Michael Powell und Emeric Pressburger im Berlinale Special wird als einziger Scorsese-Klassiker „The Departed“ von 2006 gezeigt. Der Film mit Matt Damon und Jack Nicholson erzählt von einer korrupten Polizei und der mafiösen Unterwanderung der Staatsmacht. Die Guten, die Bösen, man kann sie nicht unterscheiden.

Wie war eigentlich sein Treffen im Januar mit dem Papst, will eine Kolumbianerin wissen? „Der Katholizismus hat mich geprägt. In meinem nächsten Film will ich mich mit Jesus befassen, aber ich weiß noch nicht wie.“ Martin Scorsese hofft, dass er nach einer gut durchschlafenen Nacht am Morgen mit neuen Ideen aufwacht. Sagt’s, springt auf, und eilt davon. Um seinen Ideenreichtum muss man sich keine Sorgen machen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false