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Foucault lässt grüßen. Früher gab es die Kontrollgesellschaft – heute kontrolliert sich das Ich am liebsten selbst.

© imago/Westend 61

Selbstoptimierungswahn: Die Gesundheit ist zum Schlachtfeld der Moral geworden

Wellness-Epidemie und Kontrollsucht: Wissenschaftsjournalistin Barbara Ehrenreich hat ein erhellendes und sehr persönliches Buch über unseren Zwang zu Glück und Gesundheit geschrieben.

Zwischen blühenden Fantasien vom ewigen Leben und schlichter Plackerei, um das Laufwerk aus Knochen, Muskeln und Sehnen funktionsfähig zu halten, kurven die Jogger nun wieder durch die Parks, unterstützt womöglich durch Achtsamkeitsübungen, die keineswegs nur Alt-Hippies oder Yoga-Enthusiasten betreiben, sondern seit einiger Zeit auch die Gurus der High-Tech-Branche. Fernöstliche Weisheiten und kalifornische Selbstanbetung amalgamieren zum neuesten Trend fröhlicher Dauer-Kontrolle. Schon lange überwacht nicht mehr einfach der Arbeitgeber den Angestellten, der Chef den Untergebenen. Der Kontrollmechanismus ist ins Individuum gewandert. Es kontrolliert sich selbst, 24 Stunden am Tag. Noch den Schlaf will es überwachen, um zu sehen, wie er sich weiter verbessern lässt.

Das neueste Buch der amerikanischen Wissenschaftsjournalistin Barbara Ehrenreich, die dieses Jahr mit dem hochdotierten Erasmuspreis ausgezeichnet wird, steht quer zu den Genres. Es ist kein Ratgeber, aber auch kein Enthüllungsbuch wie „Nickel and Dimed" über den Niedriglohnsektor oder „Smile or Die“ über die Verdummung der Welt durch die Industrie des positiven Denkens. Es ist nachdenklicher, philosophischer und auch naturwissenschaftlicher. Ohne geschwätzig zu werden, spricht die 1941 geborene Autorin meistens in der ersten Person. Sie macht deutlich, dass sie aus der Warte einer Amerikanerin argumentiert, die aus einer Arbeiterfamilie stammt, Physik und Biologie studiert hat, in Zellbiologie promovierte und schließlich die Wissenschaftskarriere zugunsten des freien Schreibens und der Erziehung zweier Kinder aufgegeben hat.

Ehrenreich wurde fälschlicherweise mit Brustkrebs diagnostiziert

Sie macht auch deutlich, dass sie aus der Warte einer Frau spricht, die im Jahr 2000 an Brustkrebs erkrankte, sich schulmedizinisch therapieren ließ, viele Jahre pflichtschuldig Vorsorgeuntersuchungen absolvierte, um dann nach der Aufregung um einen falsch positiven Mammographie-Befund allmählich weniger Zeit in Wartezimmern zu verbringen. Sie stellt das als die Summe vieler kleiner Entscheidungen dar, und sie macht glücklicherweise keine Heilslehre daraus. Irgendwann sei ihr klargeworden, dass sie nun alt genug sei, um sterben zu können. Diese Erkenntnis habe sich mit dem überraschenden Gefühl neu gewonnener Freiheit verbunden.

Was steckt hinter der Vorstellung, man könne durch Vorsorge und richtiges Verhalten Krankheiten verhindern und den Tod so weit hinausschieben, dass er gewissermaßen hinter dem Ereignishorizont verschwindet? „Wollen wir ewig leben?“, hat der Kunstmann Verlag den Titel zugespitzt, der im Original schlicht „Natural Causes“ heißt, also „natürliche Gründe“ im Sinne eines natürlichen Todes. Dass der Tod, ganz egal, in welchem Alter, ein Skandal ist, hat Elias Canetti noch als 80-Jähriger vertreten. Aber die meisten Menschen stellen sich vor, sie wären einverstanden mit ihm, wenn er nur spät genug und möglichst schmerzlos käme.

Das Leben als Unterbrechung einer ewigen Nichtexistenz

Fundiert und ganz dem eigenen Interesse folgend, wildert Ehrenreich in verschiedensten Bereichen, um uns die Idee des natürlichen Todes näher zu bringen. Sie profiliert ihn als die normalste Sache der Welt. In gewisser Weise dreht sie Canettis Position um, wenn sie an den Leser appelliert: „Sie können sich den Tod voller Bitterkeit oder Resignation als tragische Unterbrechung Ihres Lebens vorstellen und jede denkbare Möglichkeit ergreifen, um ihn hinauszuschieben. Oder Sie können sich, realistischer, das Leben als Unterbrechung einer Ewigkeit individueller Nichtexistenz vorstellen und es als eine kurze Chance begreifen, die lebendige, immer überraschende Welt um uns herum zu beobachten und mit ihr zu interagieren.“ Drei Billionen Dollar setzt die Gesundheitsindustrie in den USA jährlich um. In Deutschland überschritten 2017 laut Statistischem Bundesamt die Gesundheitsausgaben pro Tag zum ersten Mal die Milliardengrenze. In „Überdiagnostik“ und „Übermedikalisierung“ sieht Ehrenreich ein größeres Problem als im Vorenthalten von Leistungen. Dass sich die Lebenserwartung von ärmeren und wohlhabenderen Menschen immer weiter auseinanderentwickelt, lässt sich statistisch durch unterschiedlichen Alkohol-, Nikotin- und Drogenmissbrauch sowie Ernährungs- und Bewegungsgewohnheiten erklären. Wenn diese Faktoren einen so starken Einfluss haben, kann man dann nicht daran drehen?

Auf diese Idee kommen die Priester der Eigenverantwortung ziemlich schnell. So soll etwa der Computerwissenschaftler Ray Kurzweil einen exakt ausgetüftelten Nahrungsergänzungsmittel-Cocktail zu sich nehmen und ständig seine Vitaldaten überprüfen, um sein biologisches Alters so weit nach unten zu drücken, dass sein Körper fit genug bleibt, wenn eines genau berechneten Tages die technischen Innovationen eine Form ewigen Lebens erlauben.

Wir vergotten unser Ich

Der in den siebziger und achtziger Jahren auf gesellschaftliche Veränderungen gerichtete Fokus konzentriert sich inzwischen aufs eigene Selbst. Je komplexer die äußeren Umstände, desto mehr sucht das Ich den Halt in sich. Die Aufklärung hat zwar Gott abgeschafft, nicht aber die Introspektion, argumentiert Ehrenreich in einem kulturhistorischen Kapitel, das ihre Ausführungen zu Immunologie, Soziobiologie, Evolutionsbiologie und Virologie ergänzt. Wir neigen dazu, unser Ich zu vergotten, behauptet sie. Das Kauderwelsch der Coaches unterschiedlichster Couleur, die dem Ich predigen, es müsse an sich glauben, um erfolgreich zu sein, sich schätzen, würdigen, pflegen, um Glück und Gesundheit zu finden, gibt ihr nur Recht.

Mit der fixen Idee, sich selbst zu kontrollieren, um sich dann per Wellness-Anwendung wieder gehen zu lassen, ist ein Schlachtfeld moralischen Wettrüstens um die Gesundheit entstanden. Wer krank wird oder frühzeitig stirbt, muss was falsch gemacht haben. Ehrenreich spricht treffend von „biomoralischer Autopsie“, der jede Krankheit und jeder Tod in Hinsicht auf die Lebensführung unterzogen werde. Es ist schließlich die Zellbiologie, ihr früheres Forschungsgebiet, auf dem sie interessante Neuigkeiten „paradoxer“ Natur entdeckt. Ihre Doktorarbeit hat sie einst über Makrophagen geschrieben, jene Fresszellen, die man als die Gesundheitspolizei des Körpers kennt. Sie kommen angeschwommen, umfließen den Eindringling und verspeisen ihn.

Ausgerechnet die Makrophagen sind seit rund zehn Jahren in der medizinischen Forschung in Verruf geraten. Sie stehen im Verdacht, bei der Metastasierung von Krebs eine Rolle zu spielen. Man braucht sie nicht gleich des „Hochverrats“ zu bezichtigen, wie das die Autorin aus strategischen Gründen macht, um das simple Gerede von der Stärkung des Immunsystems zu unterlaufen. Die Hypothese aber, dass sich Tumorzellen der Makrophagen bedienen, um Blutgefäße auszubilden und zu metastasieren, scheint sich für manche Krebsarten zu erhärten.

In der Überlegung, dass man Zellen einen gewissen Handlungsspielraum zubilligen muss und der Körper keine „wohlgeordnete Maschine“ ist, sieht Barbara Ehrenreich eine Entlastung. Wir haben nicht alles im Griff, könnte man ihr Fazit zusammenfassen. In Zeiten, als man noch nicht alles für machbar hielt, hätte man wohl von Schicksal gesprochen.

Barbara Ehrenreich: Wollen wir ewig leben? Aus dem Englischen von Ursel Schäfer und Enrico Heinemann. Kunstmann Verlag, München 2018. 254 Seiten, 22 €.

Meike Feßmann

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